Kernreaktor
Ein Kernreaktor (auch Atomreaktor oder Atommeiler, veraltet Atombrenner) ist eine Anlage, in der eine Kernspaltungsreaktion kontinuierlich im makroskopischen, technischen Maßstab abläuft.
Weltweit verbreitet sind Leistungsreaktoren, das heißt Kernreaktoranlagen, die durch die Spaltung (englisch fission) von Uran oder Plutonium zunächst Wärme und daraus meist elektrische Energie (siehe Kernkraftwerk) gewinnen. Dagegen dienen Forschungsreaktoren zur Erzeugung von freien Neutronen, etwa für Zwecke der Materialforschung, oder zur Herstellung von bestimmten radioaktiven Nukliden, etwa zu medizinischen Zwecken. Im Erdaltertum kam es wiederholt zur Bildung natürlicher Kernreaktoren.
Ein Kernkraftwerk hat oft mehrere Reaktoren. Hier kommt es oft zu unpräzisen Aussagen. Zum Beispiel bedeutet die Aussage „in Deutschland liefen bis zum Atomausstieg 17 Kernkraftwerke“, dass 17 Kernreaktoren an deutlich weniger Standorten liefen.
Die meisten Kernreaktoren sind ortsfeste Anlagen. Daneben gibt es Kernreaktoren in U-Booten und anderen Schiffen. Beispielsweise
- haben die USA einige Flugzeugträger mit Atomantrieb, sowie Frankreich eines,
- haben sechs Atommächte atomgetriebene U-Boote, beispielsweise atomgetriebene Jagd-U-Boote,
- gab es 2011 zehn Atomeisbrecher und vier atombetriebene Frachter.
In der Atom-Euphorie der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre kam der Gedanke an atomgetriebene Straßenfahrzeuge, Flugzeuge oder Raumschiffe auf.[1]
Funktionsweise
Die Kernspaltung
Zwischen den Protonen und den Neutronen eines Atomkerns wirken sehr starke anziehende Kräfte, die jedoch eine nur sehr begrenzte Reichweite haben. Daher wirkt diese Kernkraft im Wesentlichen auf die nächsten Nachbarn – weiter entfernte Nukleonen tragen zu der anziehenden Kraft nur in geringem Maße bei. Solange die Kernkraft größer ist als die abstoßende Coulombkraft zwischen den positiv geladenen Protonen, hält der Kern zusammen. Kleine Atomkerne sind stabil, wenn sie je Proton ein Neutron enthalten: 40Ca ist das größte stabile Isotop mit gleicher Protonen- und Neutronenzahl. Mit zunehmender Protonenzahl wird ein immer höherer Neutronenüberschuss zur Stabilität erforderlich, denn durch die anziehende Kernkraft der zusätzlichen Neutronen wird die abstoßende Coulombkraft der Protonen kompensiert. Der schwerste stabile Kern ist das Blei-Isotop 208Pb mit 82 Protonen und 126 Neutronen.
Noch schwerere Kerne, wie beispielsweise das Uran oder Plutonium, sind radioaktiv, also instabil. Solche Kerne werden auch mit weiteren zusätzlichen Neutronen nicht stabil: Fängt einer dieser schweren Kerne, etwa des Uranisotops 235U oder des Plutoniumisotops 239Pu, ein Neutron ein, so gewinnt er Bindungsenergie. Dadurch wandelt er sich in einen hochangeregten, instabilen Zustand des Kerns 236U beziehungsweise 240Pu um. Solche hochangeregten schweren Kerne regen sich mit extrem kurzen Halbwertszeiten durch Kernspaltung ab. Anschaulich gerät der Kern durch die Neutronenabsorption wie ein angestoßener Wassertropfen in Schwingungen und zerreißt in zwei Bruchstücke (mit einem Massenverhältnis von etwa 2 zu 3) und etwa zwei bis drei schnelle Neutronen. Diese neuen Neutronen stehen für weitere Kernspaltungen zur Verfügung; das ist die Grundlage der nuklearen Kettenreaktion.
Energiefreisetzung bei der Kernspaltung
Die neu entstandenen Kerne mittlerer Masse, die so genannten Spaltprodukte, haben eine größere Bindungsenergie pro Nukleon als der ursprüngliche schwere Kern. Die Differenz der Bindungsenergien wird unter anderem in kinetische Energie der Spaltprodukte umgewandelt (Berechnung). Diese geben die Energie durch Stöße an das umgebende Material als Wärme ab. Die Wärme wird durch ein Kühlmittel abgeführt und kann beispielsweise zur Heizung, als Prozesswärme etwa zur Meerwasserentsalzung oder zur Stromerzeugung genutzt werden.
Etwa 6 % der gesamten in einem Kernreaktor frei werdenden Energie wird in Form von Elektron-Antineutrinos frei, die praktisch ungehindert aus der Spaltzone des Reaktors entweichen und das gesamte Material der Umgebung durchdringen. Die Neutrinos üben keine merklichen Wirkungen aus, da sie mit Materie kaum reagieren.
Zusammengenommen haben die rund 440 Kernreaktoren der derzeit 210 Kernkraftwerke, die es weltweit in 30 Ländern gibt, die Kapazität zur Bereitstellung von etwa 370 Gigawatt elektrischer Leistung, woraus ein Anteil von 15 % der gesamten elektrischen Energie weltweit gewonnen wird (Stand: 2009).[2]
Thermische Neutronen und der Moderator
Der Spaltquerschnitt beispielsweise des Isotops 235U nimmt mit abnehmender Energie und damit gleichbedeutend mit abnehmender Geschwindigkeit des Neutrons zu. Je langsamer das Neutron ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es von einem Uran-235-Kern absorbiert wird und dieser sich anschließend spaltet. Daher bremst man in den meisten Reaktoren die schnellen Neutronen aus der Kernspaltung mittels eines Moderators ab. Dies ist ein Material wie etwa Graphit, schweres oder normales Wasser, das leichte Atomkerne (kleinere Massenzahl) enthält und einen sehr niedrigen Absorptionsquerschnitt für Neutronen hat. Die erste Eigenschaft führt dazu, dass die Neutronen durch Stöße mit diesen Atomkernen möglichst stark abgebremst werden. Die zweite Eigenschaft hat zur Folge, dass die Neutronen nicht schon im Moderator absorbiert werden und somit der Kettenreaktion weiter zur Verfügung stehen. Die Neutronen können bis herunter auf die Geschwindigkeiten der Kerne des Moderators abgebremst werden; deren durchschnittliche Geschwindigkeit ist nach der Theorie der Brownschen Bewegung durch die Temperatur des Moderators gegeben. Es findet also eine Thermalisierung statt. Man spricht daher nicht von abgebremsten, sondern von thermischen Neutronen, denn die Neutronen besitzen anschließend eine ähnliche thermische Energieverteilung wie die der Moleküle des Moderators. Ein Reaktor, der zur Kernspaltung thermische Neutronen verwendet, wird dementsprechend als „Thermischer Reaktor“ bezeichnet. Im Gegensatz dazu nutzt ein „schneller“ Reaktor die nicht abgebremsten, schnellen Neutronen zur Spaltung (daher die Bezeichnung „Schneller Brüter“).
Einleitung und Steuerung der Kettenreaktion
Im abgeschalteten Zustand, d.h. bei eingefahrenen Steuerstäben, ist der Reaktor unterkritisch. Einige freie Neutronen sind stets im Reaktor vorhanden, freigesetzt beispielsweise durch Spontanspaltung von Atomkernen des Kernbrennstoffs. Löst eines dieser Neutronen jetzt eine Spaltungs-Kettenreaktion aus, so erlischt diese schnell wieder. Zum „Anfahren“ des Reaktors wird Neutronen absorbierendes Material (die Steuerstäbe) unter ständiger Messung des Neutronenflusses mehr oder weniger weit aus dem Reaktorkern heraus gezogen, bis leichte Überkritikalität durch verzögerte Neutronen, also eine selbsterhaltende Kettenreaktion mit allmählich zunehmender Reaktionsrate erreicht ist. Neutronenfluss und Wärmeleistung des Reaktors sind proportional zur Reaktionsrate und steigen daher mit ihr an. Mittels der Steuerstäbe wird der Neutronenfluss auf das jeweils gewünschte Fluss- oder Leistungsniveau im gerade kritischen Zustand eingeregelt und konstant gehalten; der Multiplikationsfaktor k ist dann gleich 1,0. Etwaige Änderungen von k durch Temperaturanstieg oder andere Einflüsse werden durch Verstellen der Steuerstäbe ausgeglichen. Dies geschieht bei praktisch allen Reaktoren durch eine automatische Steuerung, die auf den gemessenen Neutronenfluss reagiert.
Der Multiplikationsfaktor 1,0 bedeutet, dass durchschnittlich gerade eines der pro Kernspaltung freiwerdenden Neutronen eine weitere Kernspaltung auslöst. Alle übrigen Neutronen werden entweder absorbiert – teils unvermeidlich im Strukturmaterial (Stahl usw.) und in nicht spaltbaren Brennstoffbestandteilen, teils im Absorbermaterial der Steuerstäbe, meist Bor oder Cadmium – oder entweichen aus dem Reaktor nach außen („Leckage“).
Zum Verringern der Leistung und zum Abschalten des Reaktors werden die Steuerstäbe hinein gefahren, wodurch er wieder unterkritisch wird, der Multiplikationsfaktor sinkt auf Werte unter 1,0; die Reaktionsrate nimmt ab, und die Kettenreaktion endet.
Ein verzögert überkritischer Reaktor steigert seine Leistung vergleichsweise "langsam", über einen Zeitraum von mehreren Sekunden. Falls die aktive Regelung bei wassermoderierten Reaktoren versagt, also die Kritikalität nicht auf 1 zurückgeregelt wird, steigert sich die Leistung über den Nennwert hinaus. Dabei erwärmt sich der Moderator und dehnt sich in der Folge aus, bzw. verdampft. Da moderierendes Wasser jedoch notwendig ist, um die Kettenreaktion aufrechtzuerhalten, kehrt der Reaktor – sofern nur das Wasser verdampft, aber die räumliche Anordnung des Brennstoffs noch erhalten geblieben ist – in den unterkritischen Bereich zurück. Dieses Verhalten heißt eigenstabil.
Dieses Verhalten gilt beispielsweise nicht für graphitmoderierte Reaktortypen, da Graphit bei zunehmender Temperatur seine moderierenden Eigenschaften behält. Gerät ein solcher Reaktor durch Versagen der Regelungssysteme in den verzögert überkritischen Bereich, so kommt die Kettenreaktion nicht zum Erliegen und dies führt zur Überhitzung und Zerstörung des Reaktors. Dieses Verhalten bezeichnet man als nicht eigenstabil oder labil.
Im Gegensatz zum verzögert überkritischen Reaktor ist ein prompt überkritischer Reaktor nicht mehr regelbar, und es kann zu schweren Unfällen kommen. Der Neutronenfluss und damit die Wärmeleistung des Reaktors steigt exponentiell mit einer Verdoppelungszeit im Bereich von 10−4 Sekunden an. Die erreichte Leistung kann die Nennleistung während einiger Millisekunden über 1000 mal übersteigen, bis sie durch die Dopplerverbreiterung im so erwärmten Brennstoff wieder gebremst wird. Die Brennstäbe werden durch diese Leistungsexkursion schlagartig auf Temperaturen über 1000°C erwärmt. Je nach Bauart und genauen Umständen des Unfalls kann dies zur schweren Schäden am Reaktor führen, vor allem durch schlagartig verdampfendes (Kühl-)Wasser. Beispiele für promt überkritische Leichtwasserreaktoren und die Folgen zeigen die BORAX-Experimenten oder der Unfall im US-Forschungsreaktor SL-1. Der bisher größte Unfall durch einen zumindest in Teilbereichen prompt überkritischen Reaktor war die Katastrophe von Tschernobyl, bei der unmittelbar nach der Leistungsexkursion schlagartig verdampfende Flüssigkeiten, Metalle und der anschließende Graphitbrand zu einer weiträumigen Verteilung des radioaktiven Inventars geführt haben.
Die automatische Unterbrechung der Kettenreaktion bei wassermoderierten Reaktoren ist, anders als gelegentlich behauptet, kein Garant dafür, dass es nicht zu einer Kernschmelze kommt, da die Nachzerfallswärme bei Versagen aktiver Kühlsysteme ausreicht, um diese herbeizuführen. Aus diesem Grunde sind die Kühlsysteme redundant und diversitär ausgelegt. Eine Kernschmelze wird als Auslegungsstörfall seit den Unfällen in Three Mile Island bei der Planung von Kernkraftwerken berücksichtigt und ist prinzipiell beherrschbar. Wegen der veränderten geometrischen Anordnung ist erneute Kritikalität allerdings nicht grundsätzlich auszuschließen.
Unterkritisch arbeitende Reaktoren
Eine Kettenreaktion mit gleichbleibender Reaktionsrate kann auch in einem unterkritischen Reaktor erreicht werden, indem man freie Neutronen aus einer unabhängigen Neutronenquelle einspeist. Ein solches System wird manchmal als getriebener Reaktor bezeichnet. Wenn die Neutronenquelle auf einem Teilchenbeschleuniger beruht, also jederzeit abschaltbar ist, bietet das Prinzip verbesserte Sicherheit gegen Reaktivitätsstörfälle. Die Nachzerfallswärme (siehe unten) tritt hier jedoch ebenso wie beim kritisch arbeitenden Reaktor auf; Vorkehrungen zur Beherrschung von Kühlungsverlust-Störfällen sind hier also ebenso nötig wie bei den üblichen Reaktoren. Getriebene Reaktoren sind gelegentlich zu Versuchszwecken gebaut und betrieben worden und werden auch als Großanlagen zur Transmutation von Reaktorabfall entworfen (siehe Accelerator Driven System).
Nachzerfallswärme
Wird ein Reaktor abgeschaltet, so wird durch den radioaktiven Zerfall der Spaltprodukte weiterhin Wärme produziert. Die Leistung dieser so genannten Nachzerfallswärme entspricht anfänglich etwa 5–10 % der thermischen Leistung des Reaktors im Normalbetrieb und klingt in einem Zeitraum von einigen Tagen größtenteils ab. Häufig wird dafür der Begriff „Restwärme“ verwendet, welcher aber irreführend ist, denn es handelt sich nicht um die verbleibende aktuelle Hitze des Reaktorkerns, sondern um zusätzliche Energie, die durch weiterlaufende Zerfallsreaktionen frei wird.
Um die Nachzerfallswärme in Notfällen (bei ausgefallenem Hauptkühlsystem) sicher abführen zu können, besitzen alle Kernkraftwerke ein aufwändiges Not- und Nachkühlsystem. Sollten jedoch auch diese Systeme versagen, kann es durch die steigenden Temperaturen zu einer Kernschmelze kommen, bei der Strukturteile des Reaktorkerns und unter Umständen Teile des Kernbrennstoffs schmelzen.
Kernschmelze
Wenn Brennstäbe niederschmelzen und dadurch eine Zusammenballung von Brennstoff entsteht, nimmt der Multiplikationsfaktor zu, und es kann zu einer schnellen unkontrollierten Aufheizung kommen. Um diesen Prozess zu verhindern oder wenigstens zu verzögern, werden in einigen Reaktoren die im Reaktorkern verarbeiteten Materialien so gewählt, dass ihr Neutronen-Absorptionsvermögen mit steigender Temperatur anwächst, die Reaktivität also abnimmt. Der Fall der Kernschmelze wird als größter anzunehmender Unfall (GAU) betrachtet, also als der schwerste Unfall, der bei der Auslegung der Anlage in Betracht zu ziehen ist und dem sie ohne Schäden für die Umgebung standhalten muss. Solch ein Unfall ereignete sich beispielsweise im Kernkraftwerk Three Mile Island.
Den schlimmsten Fall, dass zum Beispiel das Reaktorgebäude nicht standhält und eine größere, die zulässigen Grenzwerte weit überschreitende Menge radioaktiver Stoffe austritt, bezeichnet man als Super-GAU. Dies geschah zum Beispiel 1986 bei der Katastrophe von Tschernobyl und 2011 bei der Katastrophe von Fukushima.
Als inhärent sicher gelten daher beim derzeitigen Stand der Technik nur bestimmte Hochtemperaturreaktoren geringerer Leistungsdichte, bei denen eine Kernschmelze prinzipbedingt unmöglich ist. Die Leistungsdichte wird in MW/m³ angegeben, also in Megawatt thermischer Leistung pro Kubikmeter Reaktorkern. Diese Angabe erlaubt eine Aussage darüber, welche technischen Vorsorgen getroffen werden müssen, um im Falle von Störungen oder Schnellabschaltungen die anfallende Nachzerfallswärme abzuführen.
Typische Leistungsdichten sind: für gasgekühlte Hochtemperaturreaktoren 6 MW/m³, für Siedewasserreaktoren 50 MW/m³ und für Druckwasserreaktoren 100 MW/m³.
Der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) hat unterhalb des Druckbehälters zur Sicherheit für den Fall einer Kernschmelze ein besonders geformtes Keramikbecken, den Core-Catcher. In diesem soll das geschmolzene Material des Reaktorkerns aufgefangen und durch eine spezielle Kühlung abgekühlt werden.
Reaktortypen
Die ersten Versuchsreaktoren waren simple Aufschichtungen von spaltbarem Material. Ein Beispiel dafür ist der Reaktor Chicago Pile, in dem die erste kontrollierte Kernspaltung stattfand. Moderne Reaktoren werden nach der Art der Kühlung, der Moderation, des verwendeten Brennstoffs und der Bauweise unterteilt.
Leichtwasserreaktor
Mit normalem leichtem Wasser moderierte Reaktionen finden im Leichtwasserreaktor LWR statt, der als Siedewasserreaktor oder Druckwasserreaktor ausgelegt sein kann. Eine Weiterentwicklung des Vor-Konvoi, Konvoi und des N4 ist der Europäische Druckwasserreaktor (EPR). Ein russischer Druckwasserreaktor ist der WWER. Leichtwasserreaktoren benötigen angereichertes Uran, Plutonium oder Mischoxide (MOX) als Brennstoff. Ein Leichtwasserreaktor war auch der Naturreaktor Oklo. Die Brennelemente des LWR sind empfindlich gegenüber thermodynamischen und mechanischen Belastungen. Um diese zu vermeiden, sind ausgeklügelte, technische und betriebliche Schutzmaßnahmen erforderlich, welche die Auslegung des Kernkraftwerkes in Gänze prägen. Gleiches gilt für den Reaktordruckbehälter mit seinem Risiko des Berstens. Die verbleibenden Restrisiken der Kernschmelze der Brennelemente und des Berstens des Reaktordruckbehälters wurden wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit des Eintritts als irrelevant erklärt, zum Beispiel von Heinrich Mandel [3]
Schwerwasserreaktor
Mit Schwerem Wasser moderierte Schwerwasserreaktoren erfordern eine große Menge des teuren Schweren Wassers, können aber mit natürlichem, nicht angereichertem Uran betrieben werden. Der bekannteste Vertreter dieses Typs ist der in Kanada entwickelte CANDU-Reaktor.
Graphitreaktor
Gasgekühlte graphitmoderierte Reaktoren wurden bereits in den 1950er-Jahren entwickelt, zunächst primär für militärische Zwecke (Plutoniumproduktion). Sie sind die ältesten kommerziell genutzten Kernreaktoren; das Kühlmittel ist in diesem Fall Kohlenstoffdioxid. In Großbritannien ist (2011) noch eine Reihe dieser Anlagen in Betrieb.[4] Wegen der aus einer Magnesiumlegierung hergestellten Brennstabhülle heißt dieser Reaktortyp Magnox-Reaktor. Ähnliche Anlagen wurden auch in Frankreich betrieben, sind aber inzwischen alle abgeschaltet. Am 17. Oktober 1969 schmolzen kurz nach Inbetriebnahme des Reaktors 50 kg Brennstoff im gasgekühlten Graphitreaktor des französischen Kernkraftwerks Saint-Laurent A1 (450 MWel).[5] Der Reaktor wurde daraufhin 1969 stillgelegt (die heutigen Reaktoren des Kernkraftwerks sind Druckwasserreaktoren).
Ein Nachfolger der Magnox-Reaktoren ist der in Großbritannien entwickelte Advanced Gas-cooled Reactor. Im Unterschied zu den Magnox-Reaktoren verwendet er leicht angereichertes Urandioxid statt Uranmetall als Brennstoff. Dies ermöglicht höhere Leistungsdichten und Kühlmittelaustrittstemperaturen und damit einen besseren thermischen Wirkungsgrad.
Hochtemperaturreaktoren HTR nutzen ebenfalls Graphit als Moderator; als Kühlmittel wird Helium-Gas verwendet. Eine mögliche Bauform des Hochtemperaturreaktors ist der Kugelhaufenreaktor nach Rudolf Schulten, bei dem der Brennstoff vollständig in Graphit eingeschlossen ist. Dieser Reaktortyp gilt als einer der sichersten, da hier selbst bei einem Versagen der Not- und Nachkühlsysteme eine Kernschmelze aufgrund des hohen Schmelzpunktes des Graphits unmöglich ist. Eine Reihe praktischer Probleme hat die kommerzielle Umsetzung des Konzepts verhindert. Hinzu kam. dass seinerzeit die Anlagekosten des HTR höher als die des Leichtwasserreaktors waren. In Deutschland forschte man am Versuchskernkraftwerk AVR (Jülich) und baute das Prototypkraftwerk THTR-300 in Hamm-Uentrop, letzteres mit einem Reaktordruckbehälter aus Spannbeton, um ein Bersten des Reaktordruckbehälters unmöglich sein zu lassen..
Die sowjetischen Reaktoren vom Typ RBMK nutzen ebenfalls Graphit als Moderator, jedoch leichtes Wasser als Kühlmittel. Hier liegt der Graphit in Blöcken vor, durch die hunderte bis tausende (abhängig von der Leistung des Reaktors) Kanäle gebohrt sind, in denen sich Druckröhren mit den Brennelementen und der Wasserkühlung befinden. Dieser Reaktortyp ist träge (man braucht viel Zeit zum Regeln) und unsicherer als andere Typen, da ein Kühlmittelverlust hier nicht Moderatorverlust bedeutet (also nicht die Reaktivität verringert) und da die Menge an brennbarem Graphit sehr groß ist. Der havarierte Reaktor in Tschernobyl war von diesem Typ.
Brutreaktor
Weiterhin gibt es Brutreaktoren (Schnelle Brüter), in denen zusätzlich zur Energiefreisetzung 238U so in 239Pu umgewandelt wird, so dass mehr neues Spaltmaterial entsteht als zugleich verbraucht wird. Diese Technologie ist (auch sicherheitstechnisch) anspruchsvoller als die der anderen Typen. Ihr Vorteil ist, dass mit ihr die Uranvorräte der Erde um ein Vielfaches besser ausgenutzt werden können als wenn nur das 235U „verbrannt“ wird. Brutreaktoren arbeiten mit schnellen Neutronen und verwenden flüssiges Metall wie beispielsweise Natrium als Kühlmittel.
Kleinere nicht brütende Reaktoren mit Flüssigmetallkühlung (Blei-Bismut-Legierung) wurden in sowjetischen U-Booten eingesetzt.
Flüssigsalzreaktor
In einem Flüssigsalzreaktor (englisch MSR für molten salt reactor oder auch LFTR für Liquid Fluoride Thorium Reactor) wird eine Salzschmelze, die den Kernbrennstoff (beispielsweise Thorium und Uran) enthält, in einem Kreislauf umgewälzt. Die Schmelze ist gleichzeitig Brennstoff, Kühlmittel und im Fall von Thorium auch Brutstoff.
Zugunsten von Flüssigsalzreaktoren sind verschiedene Sicherheitsargumente vorgebracht worden. Die Entwicklung wurde jedoch trotz einiger positiver Ergebnisse etwa 1975 aufgegeben, vor allem wegen Korrosionsproblemen. Erst in den 2000er Jahren wurde das Konzept wieder aufgegriffen, u. a. auch in den Generation-IV-Konzepten.
Sondertypen
Es gibt weiterhin einige Sondertypen für spezielle Anwendungen. So wurden kleine Reaktoren mit hochangereichertem Brennstoff für die Stromversorgung von Raumflugkörpern konstruiert, die ohne flüssiges Kühlmittel auskommen. Diese Reaktoren sind nicht mit den Isotopenbatterien zu verwechseln. Auch luftgekühlte Reaktoren, die stets hochangereicherten Brennstoff erfordern, wurden gebaut, zum Beispiel für physikalische Versuche im BREN-Tower in Nevada. Es wurden Reaktoren für den Antrieb von Raumfahrzeugen konstruiert, bei denen flüssiger Wasserstoff zur Kühlung des Brennstoffes dient. Allerdings kamen diese Arbeiten über Bodentests nicht hinaus (Projekt NERVA, Projekt Timberwind). Ebenfalls nicht über das Versuchsstadium hinaus kamen Reaktoren, bei denen der Brennstoff in gasförmiger Form vorliegt (Gaskernreaktor). Der Flüssigsalzreaktor nutzt ein geschmolzenes Uransalz, meist Uranhexafluorid (UF6) oder Urantetrafluorid (UF4), als Brennstoff und Wärmeträger und Graphit als Moderator. Diese Reaktoren wurden unter anderem in den USA in den 1960er-Jahren zum Antrieb von Flugzeugen entwickelt.
Derzeit wird weltweit aktiv an neuen Reaktorkonzepten gearbeitet, den Generation-IV-Konzepten, insbesondere mit Blick auf den erwarteten wachsenden Energiebedarf. Diese sollen nach der Vorstellung des U.S. Department of Energy ab 2030 zum Einsatz kommen.
Ein weiterer, zurzeit noch im Experimentalstadium befindlicher, Reaktortyp ist der Laufwellen-Reaktor. Dieses Konzept verspricht, sofern die Umsetzung gelingen sollte, eine vielfach effizientere Nutzung des Kernbrennstoffs sowie die massive Reduzierung der Problematik des radioaktiven Abfalls, da ein Laufwellen-Reaktor mit radioaktivem Abfall betrieben werden könnte und diesen dabei systematisch aufbrauchen würde.
Natürlicher Kernreaktor
Eine Kernspaltungs-Kettenreaktion kann nicht nur durch komplexe technische Systeme erreicht werden, sondern kam unter bestimmten – wenn auch seltenen – Umständen auch in der Natur vor. 1972 entdeckten französische Forscher in der Region Oklo des westafrikanischen Landes Gabun die Überreste des natürlichen Kernreaktors Oklo, der vor etwa zwei Milliarden Jahren, im Proterozoikum, durch Naturvorgänge entstanden war. Insgesamt wurden bisher in Oklo und einer benachbarten Uranlagerstätte Beweise für frühere Spaltungsreaktionen an 17 Stellen gefunden.
Eine Voraussetzung für das Zustandekommen der natürlich abgelaufenen Spaltungs-Kettenreaktionen war der im Erdaltertum sehr viel höhere natürliche Anteil an spaltbarem 235U im Uran, er betrug damals ca. 3 %. Auf Grund der kürzeren Halbwertszeit von 235U gegenüber 238U beträgt der natürliche Gehalt von 235U im Uran derzeit nur noch etwa 0,7 %. Bei diesem geringen Gehalt an spaltbarem Material können neue kritische Spaltungs-Kettenreaktionen auf der Erde nicht mehr natürlich vorkommen.
Ausgangspunkt für die Entdeckung des Oklo-Reaktors war die Beobachtung, dass das Uranerz aus der Oklo-Mine einen geringfügig kleineren Gehalt des Isotops Uran-235 als erwartet aufwies. Die Wissenschaftler bestimmten daraufhin die Mengen verschiedener Edelgasisotope, die in einer Materialprobe der Oklo-Mine eingeschlossenen waren, mit einem Massenspektrometer. Aus der Verteilung der verschiedenen bei der Uranspaltung entstehenden Xenonisotope in der Probe ergab sich, dass die Reaktion in Pulsen abgelaufen ist. Der ursprüngliche Urangehalt des Gesteins führte mit der Moderatorwirkung des in den Spalten des Urangesteins vorhandenen Wassers zur Kritikalität. Die dadurch freigesetzte Wärme im Urangestein erhitzte das Wasser in den Spalten, bis es schließlich verdampfte und nach Art eines Geysirs entwich. Infolgedessen konnte das Wasser nicht mehr als Moderator wirken, so dass die Kernreaktion zum Erliegen kam (Ruhephase). Daraufhin sank die Temperatur wieder ab, so dass frisches Wasser einsickern und die Spalten wieder auffüllen konnte. Dies schuf die Voraussetzung für erneute Kritikalität, und der Zyklus konnte von vorne beginnen. Berechnungen zeigen, dass auf die etwa 30 Minuten dauernde aktive Phase (Leistungserzeugung) eine Ruhephase folgte, die mehr als zwei Stunden anhielt. Auf diese Weise wurde die natürliche Kernspaltung für etwa 500.000 Jahre in Gang gehalten, wobei über 5 Tonnen Uran-235 verbraucht wurden. Die Leistung des Reaktors lag bei im Vergleich zu den heutigen Megawatt-Reaktoren geringen 100 Kilowatt.
Bedeutsam ist der Naturreaktor von Oklo auch für die Beurteilung der Sicherheit von Endlagerungen für Radionuklide („Atommüll“). Die dort beobachtete sehr geringe Migration der Spaltprodukte und des erbrüteten Plutoniums über Milliarden Jahre hinweg lassen den Schluss zu, dass atomare Endlager existieren können, die über lange Zeiträume hinreichend sicher sind.
Anwendungen
Die meisten Kernreaktoren dienen der Erzeugung von elektrischer (selten: nur thermischer) Energie in Kernkraftwerken. Daneben werden Kernreaktoren auch zur Erzeugung von Radionukliden zum Beispiel für die Nutzung in Radioisotopengeneratoren oder in der Nuklearmedizin verwendet. Dabei werden die gesuchten Nuklide entweder aus dem abgebrannten Brennstoff extrahiert oder gezielt erzeugt, indem stabile Isotope der gleichen Elemente der im Kernreaktor herrschenden Neutronenstrahlung ausgesetzt werden (siehe Kernreaktion, Neutronenanlagerung). Theoretisch könnte man in einem Reaktor auch Gold herstellen (Goldsynthese), was allerdings sehr unwirtschaftlich wäre.
Die wichtigste im Reaktor durchgeführte Reaktion zur Stoffumwandlung ist neben der Erzeugung von Spaltprodukten die Erzeugung (Erbrütung genannt) von Plutonium-239 aus Uran-238, dem häufigsten Uranisotop. Weiterhin dienen Kernreaktoren als intensive regulierbare Neutronenquelle für physikalische Untersuchungen aller Art. Eine weitere Anwendung von Kernreaktoren ist der Antrieb von Fahrzeugen (Kernenergieantrieb) und die Energieversorgung von manchen Raumflugkörpern. Solche Reaktoren sind nicht mit den Isotopenbatterien zu verwechseln.
Sicherheit und Politik
Das von Kernreaktoren ausgehende Gefahrenpotenzial sowie die bislang ungelöste Frage der Lagerung der anfallenden radioaktiven Abfälle haben nach Jahren der Euphorie seit den 1970er-Jahren in vielen Ländern zu Protesten von Atomkraftgegnern und zu einer Neubewertung der Kernenergie geführt. Während in den 1990er-Jahren vor allem in Deutschland der Ausstieg aus der Kernenergie propagiert wurde, fand etwa 2000 bis 2010 vor dem Hintergrund der verblassenden Erinnerungen an die Risiken (die Katastrophe von Tschernobyl liegt nun schon über 20 Jahre zurück) ein Versuch statt, die Atomkraft wieder gesellschaftsfähig zu machen. Anlass ist die durch internationale Verträge geforderte Reduktion des CO2-Ausstoßes bei der Verbrennung fossiler Energieträger. Dem steht ein wachsender Energiebedarf aufstrebender Volkswirtschaften wie etwa China gegenüber.
Aus diesen Gründen entschlossen sich einige europäische Staaten, in neue Kernkraftwerke zu investieren. So bauen der deutsche Konzern Siemens und die französische Gruppe Areva einen Druckwasserreaktor vom Typ EPR im finnischen Olkiluoto, der 2013 ans Netz gehen soll. Russland will seine alten und teilweise maroden Kernkraftwerke erneuern und mindestens zehn Jahre lang pro Jahr einen neuen Reaktorbau beginnen. In Frankreich wird ebenfalls über den Neubau eines Reaktors verhandelt. Schweden stoppte seine Pläne zum Atomausstieg. Daneben gibt es kleinere und größere Neubauprojekte im Iran, der Volksrepublik China, Indien, Nordkorea, Türkei und anderen Staaten. (Hauptartikel: Kernenergie nach Ländern)
Die atomaren Unfälle in den japanischen Kraftwerken Fukushima-Daiichi und Tokai in der Folge des Magnitude-9-Erdbebens vom 11. März 2011 brachten hierzu fast überall neue Überlegungen in Gang.
Die Lebensdauer von Kernreaktoren ist nicht unbegrenzt. Besonders der Reaktordruckbehälter ist ständiger Neutronenstrahlung ausgesetzt, die zur Versprödung des Materials führt. Wie schnell das geschieht, hängt unter anderem davon ab, wie die Brennelemente im Reaktor angeordnet sind und welchen Abstand sie zum Reaktordruckbehälter haben. Die Kernkraftwerke Stade und Obrigheim wurden auch deshalb als erste vom Netz genommen, weil hier dieser Abstand geringer war als bei anderen, neueren Kernreaktoren. Zurzeit versuchen die Betreiber von Kernkraftwerken, durch eine geschickte Beladung mit Brennelementen und zusätzliche Moderatorstäbe die Neutronenbelastung des Reaktordruckbehälters zu reduzieren. Unter anderem das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf erforscht diese Problematik.[6]
Siehe auch
- Entdeckung der Kernspaltung
- Uranprojekt
- Kerntechnik
- Sicherheit von Kernkraftwerken
- Liste von Unfällen in kerntechnischen Anlagen
- Liste meldepflichtiger Ereignisse in deutschen kerntechnischen Anlagen
- Liste der Kernreaktoren in Deutschland
- Liste der Kernreaktoren in Österreich
- Liste der Kernreaktoren in der Schweiz
- Liste kerntechnischer Anlagen
- Liste der Kernkraftwerke
Literatur
- Dieter Smidt: Reaktortechnik. 2 Bände, Karlsruhe 1976, ISBN 3-7650-2018-4
- Dieter Emendörfer, Karl-Heinz Höcker: Theorie der Kernreaktoren. Mannheim/Wien/Zürich 1982, ISBN 3-411-01599-3
- A. P. Meshik et al.: Record of Cycling Operation of the Natural Nuclear Reactor in the Oklo/Okelobondo Area in Gabon. Phys. Rev. Lett. 93, 182302 (2004)
Weblinks
- Gibt es natürliche Reaktoren? aus der Fernseh-Sendereihe alpha-Centauri. Erstmalig ausgestrahlt am 16. Aug. 2006.
- Informationen zu Kernreaktor im BAM-Portal
- Generation IV Konzept
- Vereinfachte Simulation eines Reaktorkerns zum Download
Einzelnachweise
- ↑ Atom-Euphorie in den 1950ern; mehr dazu siehe Kernenergie nach Ländern#Geschichte
- ↑ Gerstner, E.: Nuclear energy: The hybrid returns. In: Nature. 460, 2009, S. 25. doi:10.1038/460025a
- ↑ Mandel, Heinrich: Standortfragen bei Kernkraftwerken, atw atomwirtschaft 1/1971, Seite 22 - 26
- ↑ Meldung vom 10. Februar 2011
- ↑ Accidents: 1960's. In: Nuclear Age Peace Foundation. 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.). Sowie Nuclear Power in Switzerland. In: World Nuclear Association. 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.).
- ↑ Presseinformation aus dem FZD vom 9. August 2010