Ionisierende Strahlung
Ionisierende Strahlung ist eine Bezeichnung für jede Teilchen- oder elektromagnetische Strahlung, die aus Atomen oder Molekülen Elektronen entfernen kann, so dass positiv geladene Ionen oder Molekülreste zurückbleiben (Ionisation).
Manche ionisierenden Strahlungen gehen von radioaktiven Stoffen aus. Für sie wird manchmal die verkürzte, umgangssprachliche Bezeichnung radioaktive Strahlung gebraucht.
Arten ionisierender Strahlung
Zur ionisierenden Strahlung rechnet man alle Strahlungen, deren kinetische Energie (bei Teilchen) bzw. Quantenenergie (bei Wellen) ausreicht, um Elektronen – auch über Zwischenreaktionen – aus einem Atom oder Molekül herauszulösen. Dazu benötigt man im Allgemeinen Ionisationsenergien von mehr als etwa 5 Elektronenvolt (eV).
- Im elektromagnetischen Spektrum entspricht das Wellenlängen von weniger als etwa 200 nm; daher haben nur Gammastrahlung, Röntgenstrahlung und kurzwelligere Ultraviolettstrahlung genügend Quantenenergie, um Elektronen aus den Atomhüllen zu lösen und so auch Atombindungen aufzutrennen. Dagegen sind Radio-, Radar- und Mikrowellen, Infrarotstrahlung oder sichtbares Licht keine ionisierende Strahlung, denn sie können keine Moleküle (außer von speziellen, lichtempfindlichen Substanzen) dauerhaft verändern oder gar zerlegen. Moleküle, die durch so energiearme Photonen zerlegt würden, könnten unter Normalbedingungen nicht existieren.
- Freie Protonen, Elektronen oder andere geladene Teilchen werden ab einer kinetischen Energie von etwa 5 eV zur ionisierenden Strahlung gezählt. Demnach sind Alphastrahlung (positiv geladene Heliumkerne) und Betastrahlung (negativ geladene Elektronen oder positiv geladene Positronen) stets ionisierende Strahlung.
- Freie Neutronen haben selbst keine merkliche Wechselwirkung mit Elektronen. Sie zählen aber aus praktischer Sicht unabhängig von ihrer kinetischen Energie zur ionisierenden Strahlung. Die Ionisation erfolgt hier indirekt über Kernreaktionen oder Streuprozesse an Atomkernen.
Wechselwirkung mit der Materie
Materie schirmt ionisierende Strahlung durch Absorption ab.
Der namensgebende Mechanismus – Ionisation – ist die Freisetzung von Elektronen aus Atomhüllen. Bei ausreichend hoher Energie treten Mehrfachionisationen auf, die z. B. die Nebelspuren in einer Nebelkammer erzeugen. Hochenergetische Elektronen erzeugen in Materie Bremsstrahlung, die selbst ebenfalls ionisierend wirkt.
Ionisierende Strahlung bricht chemische Verbindungen auf und es entstehen chemische Radikale. Hierin liegt ihre biologisch schädliche Wirkung. Auch durch Strahlung erzeugte Ionen sind instabil und sind bestrebt, die fehlenden Elektronen aus ihrer Umgebung zu holen, wodurch entweder die ursprünglichen Moleküle/Atome wiederhergestellt werden (Rekombination) oder auch durch Abspalten von Atomen andere Moleküle entstehen. Fragmente gesprengter Moleküle finden hingegen selten wieder zusammen. Sie reagieren/verbinden sich mit anderen Molekülen, wodurch diese in der Regel ebenfalls ihre biologische Funktion verlieren.
Photonen (Gammaquanten) ionisieren nicht laufend auf ihrem Weg wie Alpha- oder Betateilchen (siehe Teilchenstrahlung). Die Wechselwirkung eines Gammaquants mit Materie erfolgt durch einen der folgenden drei Prozesse:
- Photoeffekt: Beim Photoeffekt schlägt das Photon ein Elektron aus der Hülle eines Atoms.
- Compton-Effekt (siehe Bild: zwei hintereinander stattfindende Compton-Streuungen). Bei jeder Compton-Streuung gibt das Quant Energie an ein angestoßenes Elektron ab und fliegt mit verringerter Energie in anderer Richtung weiter.
- Paarbildung: Bei der Paarbildung verschwindet das Photon; seine Energie führt zur Bildung eines Teilchen-Antiteilchen-Paares.
Bei niedrigen Energien und großen Kernladungszahlen überwiegt der Photoeffekt, bei hohen Energien und großen Kernladungszahlen die Paarbildung, dazwischen im Bereich 0,1 bis 20 MeV für leichte Elemente die Comptonstreuung (siehe Schemazeichnung).
Strahlenbelastung der Bevölkerung
Natürliche Strahlungsquellen
Die Strahlenbelastung durch ionisierende Strahlung aus natürlichen Quellen führt für Bewohner von Deutschland je nach Lebenssituation (Wohnort usw.) zu einer Äquivalentdosis zwischen 1 und 10 Millisievert pro Jahr. Es handelt sich dabei hauptsächlich um kosmische Strahlung und Strahlung von radioaktiven Stoffen, die natürlich in Erdkruste, Baustoffen und in der Atmosphäre vorkommen, z. B. den radioaktiven Isotopen der lebenswichtigen Elemente Kohlenstoff und Kalium. Auch der menschliche Körper selbst enthält eine geringe, durch den Stoffwechsel konstant gehaltene Menge dieser radioaktiven Stoffe.
- Natürlich vorkommende Radioaktivität:
- Radon (kann sich insbesondere in Kellerräumen ansammeln)
- Kalium-40 und andere Radionuklide in Steinen und Baumaterialien
- in Nahrungsmitteln eingelagerte radioaktive Partikel
- natürlicher Kohlenstoff 14-Anteil in Nahrungsmitteln und Atemluft
- Kosmische Strahlung: hauptsächlich schnelle geladene Teilchen, Sekundärstrahlung durch Wechselwirkung mit der Atmosphäre gelangt bis zur Erdoberfläche; verantwortlich z. B. für die Strahlungsbelastung beim Flugverkehr. Die Belastung steigt mit der Höhe über Meer.
- Strahlung der Sonne: Ultraviolett (UV-B wird fast vollständig absorbiert, führt aber trotzdem u. a. zu Sonnenbrand; UV-C wird vollständig in der Atmosphäre absorbiert und führt durch Auftrennen des molekularen Sauerstoffs zur Ozonschicht), Teilchenstrahlung (Sonnenwind) führt zu Polarlichtern.
Zivilisatorische Strahlungsquellen
Die Jahresdosis aus zivilisatorischen Strahlenquellen liegt in der gleichen Größenordnung wie die natürliche. Sie stammt aus
- medizinischen Strahlenanwendungen wie Röntgengeräten oder Behandlungsgeräten für Krebs
- radioaktivem Material, das bei früheren Kernwaffentests oder Nuklearunfällen, wie in Tschernobyl freigesetzt wurde.
- Kernreaktionen in Kernreaktoren und Teilchenbeschleunigern. Zur Strahlenbelastung tragen hier Photonen und Neutronen bei; geladene Teilchen durchdringen Gehäuse oder Wandungen meist nicht.
Wirkung
Größen und Maßeinheiten
Energiedosis
Als Energiedosis bezeichnet man die von einem bestrahlten Objekt, z. B. Körpergewebe, über einen Belastungszeitraum pro Masseeinheit absorbierte Energiemenge. Sie ist abhängig von der Intensität der Bestrahlung und von der Absorptionsfähigkeit des bestrahlten Stoffes für die gegebene Strahlungsart und -energie.
Ionendosis
Die Ionendosis ist ein Maß für die Stärke der Ionisierung, ausgedrückt durch die freigesetzte Ladung pro Kilogramm des bestrahlten Stoffes.
Äquivalentdosis
Die Äquivalentdosis ist ein Maß für die Stärke der biologischen Wirkung einer bestimmten Strahlendosis. Gleich große Äquivalentdosen sind somit in ihrer Wirkung auf den Menschen vergleichbar, unabhängig von der Strahlenart und -energie.
Die Äquivalentdosis ergibt sich durch Multiplikation der Energiedosis in Gray mit dem Strahlungswichtungsfaktor (früher Qualitätsfaktor genannt), der in vereinfachter Weise die Relative biologische Wirksamkeit der betreffenden Strahlung beschreibt. Er hängt von der Strahlungsart und -energie ab. Beispielsweise ist der Strahlungswichtungsfaktor für Beta- und Gammastrahlung gleich 1; die Äquivalentdosis in Sv ist hier also zahlenmäßig gleich der Energiedosis in Gy. Für andere Strahlenarten gelten Faktoren bis zu 20 (s. Tabelle in Strahlungswichtungsfaktor).
Biologische Wirkung
Durch ionisierende Strahlung erzeugte Radikale richten in der Regel größeren Schaden durch nachfolgende chemische Reaktionen an als die Zerstörung des ersten Moleküls durch die Strahlung allein. Diese Wirkung ist, etwa bei der Krebsbekämpfung, erwünscht, da sie das Absterben getroffener Zellen, in diesem Fall idealerweise Tumorzellen, begünstigt.
Über das Ausmaß der Schädlichkeit gehen die Ansichten auseinander:
- Ab kurzfristiger Belastung von etwa 0,2 bis 1,0 Sv tritt die Strahlenkrankheit auf. 4 Sv als Kurzzeitbestrahlung sind in 50 % der Fälle tödlich, 7 Sv sind sicher tödlich. Sie äußert sich durch ein geschwächtes Immunsystem und Verbrennungen. Ohne Zweifel werden ab einer hohen Strahlendosis (größer als etwa 2 Sv) so viele Moleküle mit biologischer Funktion auf einmal zerstört, dass betroffene Zellen nicht mehr lebensfähig sind. Es entstehen auch zu viele giftige Substanzen durch den Zerfall von Molekülen, die die Zelle abtöten. Auf molekularer Ebene ist unter anderem die schädigende Wirkung von, durch Radiolyse entstehenden, Radikalen beteiligt. Als Langzeitfolge sind auch Veränderungen des Erbguts häufig, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Krebs münden können, vor allem aber in Mutationen, die zu Missbildungen an Nachkommen oder sich entwickelnden Embryonen/Föten sowie totaler Sterilität (Unfruchtbarkeit) führen können (siehe auch Strahlenrisiko).
- Bei mittleren Lebensdosen um 0,1 Sv, was etwa der Dosis entspricht, die ein Mensch im Verlauf von 76 Jahren durch die ständig vorhandene natürliche Strahlung von (in Deutschland) bis zu 1,3 mSv/a aufnimmt, gibt es keine auffallenden Beobachtungen, denn offenbar haben sich die Immunsysteme sämtlicher Lebewesen im Lauf der Evolution darauf eingestellt.
- Die Auswirkungen sehr geringer Dosen um 0,02 Sv werden kontrovers diskutiert:
- Einige Fachleute vermuten, dass die Schädlichkeit ionisierender Strahlen linear mit abnehmender Dosis sinkt. Da das Risiko, an Krebs zu sterben, bei 0,02 Sv nach dem linearen Modell lediglich um 1 ‰ erhöht ist, bräuchte man für einen statistischen sicheren Nachweis Millionen von Probanden. Ein derartiger Nachweis ist nicht möglich.
- Deutlich weniger Wissenschaftler registrieren Hinweise, wonach eine geringere Strahlenbelastung auch einen größeren Schaden bewirken kann; etwa weil das Immunsystem mangels Aktivität „einschläft“ und die Anfälligkeit für Krankheiten steigt. Es ist umstritten, ob eine Reduktion der natürlichen Strahlenbelastung krankheitsfördernd sein kann (vgl. Hormesis).
Die Alphastrahlung hat auf lebendes Gewebe durch ihre Ionisierungsfähigkeit eine besonders hohe schädliche Wirkung, jedoch besitzt sie in Luft eine Reichweite von nur wenigen Zentimetern und kann durch ein einfaches Blatt Papier vollständig abgeschirmt werden (den gleichen Zweck erfüllen die obersten abgestorbenen Hautschuppen), so dass Alphastrahler, die sich außerhalb des menschlichen Körpers befinden, weitgehend ungefährlich sind. Gefährlich sind Alphastrahler, wenn sie in direkten Kontakt mit lebendem Gewebe kommen. Ein Weg dafür ist das Einatmen von Aerosolen, die über die Schleimhäute des Atemweges aufgenommen werden; radioaktiver Staub wird in der Lunge eingelagert und kann dort Krebs auslösen. Das Edelgas Radon wird zwar nicht eingelagert, gefährdet aber während des Einatmens durch Zerfälle in der Lunge. Wenn ein sehr starker Alphastrahler (Halbwertszeit von einigen Tagen oder darunter) durch Nahrung aufgenommen wurde oder durch Injektion in den Blutkreislauf gebracht wurde, können bereits wenige Mikrogramm für Menschen tödlich sein.
Andererseits ist es bemerkenswert, dass beispielsweise Bad Gastein ein seit dem Mittelalter berühmtes Heilbad ist, dessen Heilwasser sich lediglich durch hohe Temperatur und den Gehalt an Radon auszeichnet, siehe Radonbalneologie.
Ultraviolettstrahlung wird von der Sonne sowie künstlich meist von Quecksilberdampflampen erzeugt. Sie kann Strahlenschäden auf der Haut, Hornhautschäden und Bindehautentzündung hervorrufen. Während UV-A (längerwelliges Ultraviolett nahe dem sichtbaren Spektralbereich) auch therapeutisch und kosmetisch eingesetzt wird (gegen Akne, zur Bräunung), sind die kurzwelligeren Anteile, die aufgrund der Ausdünnung der Ozonschicht mit größerem Anteil auch von der Sonne auf die Erdoberfläche gelangen, verantwortlich für ein erhöhtes Hautkrebsrisiko. Der größte Teil der kurzwelligen Ultraviolettstrahlung der Sonne wird durch die Erdatmosphäre absorbiert; dennoch erfordert Sonnenexposition der Haut und der Augen insbesondere im Gebirge einen Sonnenschutz (absorbierende Hautcremes, Sonnenbrille).
Sonstige Wirkung
Natürliche und künstliche Ultraviolettstrahlung führt auch zum Zerfall von Kunststoffen (Lacke, Plaste) und organischen Farbstoffen (Bleichen).
Biologische und chemische Anwendungen ionisierender Strahlung
In der Biologie wird hauptsächlich die Mutationen fördernde und sterilisierende Wirkung genutzt. In der Pflanzenzüchtung werden zum Beispiel durch „strahlungsinduzierte Mutationen“ Mutanten erzeugt, durch die veränderte Arten hervorgebracht werden können. Ein Einsatzfeld ist die „Sterile-Insekten-Technik“, kurz SIT. Dabei werden männliche Schadinsekten sterilisiert und dann im Zielgebiet freigelassen. Das Ausbleiben von Nachkommen führt zur Verringerung der Population. Vorteil hierbei ist, dass keine schädlichen Chemikalien eingesetzt werden und andere Insekten unbetroffen bleiben.
Ein dunkles Kapitel der Menschheitsgeschichte ist die Zwangssterilisation von Menschen mittels Röntgenstrahlung.
Weiterhin eignet sich ionisierende Strahlung auch zur Sterilisation von Geräten, Implantaten, Lebensmitteln und Trinkwasser (Sterilisation und Abbau organischer Stoffe durch Ultraviolett). Hierbei werden Mikroorganismen abgetötet. Für die Strahlensterilisation von Lebensmitteln gelten jedoch strenge Auflagen. Das Wachstum eines Keimlings kann durch schwache Strahlung verbessert werden, wohingegen zu starke Strahlung wachstumshemmend wirkt.
Bei der Herstellung von Polymeren ist durch Bestrahlung die Vernetzung ohne Wärmeentwicklung möglich. Mit weit eindringender Strahlung können auch große Komponenten vernetzt werden. Es wird u. a. Betastrahlung (strahlenvernetzte Isolierstoffe) und Ultraviolettstrahlung (Aushärtung von Kunstharz-Lackschichten) eingesetzt. Manche Polymerreaktionen können bei Zusatz von Aktivatoren auch durch Bestrahlung mit sichtbarem Licht initiiert werden.
Interessant ist auch die Farbänderung von Edelsteinen, Gläsern und pigmentierten Kunststoffen durch Radioaktivität.
Die Fotolithografie (u. a. in der Mikroelektronik- und Leiterplattenfertigung) nutzt Vernetzungsreaktionen (Positivlack) oder Zersetzungsreaktionen (Negativlack), die durch Ultraviolett-, Röntgen-, Ionen- oder Betastrahlung hervorgerufen werden.
Zur chlorfreien Bleiche von Zellulose kann auch Ultraviolettstrahlung genutzt werden; früher nutzte man zum Bleichen weißer Textilien das Licht der Sonne. In beiden Fällen werden färbende (Schmutz-)Bestandteile der Stoffe chemisch aufgespalten und so in flüchtige bzw. auswaschbare Substanzen überführt.
Strahlenschutz
Der Mensch kann ionisierende Strahlung, ob aus radioaktiven oder anderen Quellen, nicht direkt wahrnehmen. Für einen wirksamen Strahlenschutz beim Umgang mit radioaktiven Materialien sind daher besondere Sorgfalt und ggf. der Einsatz von Abschirmungen und von Messeinrichtungen (Dosimetern) erforderlich.
Weblinks
- Das „Glossar Strahlenschutz“ des Forschungszentrums Jülich erläutert viele Begriffe rund um ionisierende Strahlen (Einheiten, Dosisbegriffe, Alpha-, Beta-, Gammastrahlung, Strahlenschutz etc.)