Strahlenschaden

Strahlenschaden

Strahlenschäden sind Schäden, die durch ionisierende Strahlung an Lebewesen oder Material hervorgerufen werden. Die Strahlung kann aus natürlichen oder künstlichen Quellen stammen. Neutronenstrahlung wirkt nur indirekt ionisierend, verursacht aber ebenfalls Strahlenschäden. Wegen der Einschränkung auf ionisierende Strahlung sind mit "Strahlenschaden" Schäden durch reine Wärmewirkung von Strahlung (z. B. Verbrennung (Medizin) in der Regel nicht gemeint.

Beim Eindringen der Strahlung in Materie gibt sie Energie an die getroffenen Atome oder Moleküle ab. Dabei werden unter anderem Atome räumlich verschoben, Elektronen aus den Atomhüllen geschlagen und chemische Bindungen aufgebrochen, wobei Radikale entstehen, die ihrerseits wieder Schäden hervorrufen können.

Strahlenschäden in Materialien

In festen technischen Materialien, etwa Metallen, verschlechtert das Herausschlagen von Atomen aus ihren Kristallgitterplätzen die Materialeigenschaften. Solche Strahlenschäden sammeln sich an, bis es schließlich zu sichtbaren Veränderungen (beispielsweise Ausbleichen) und/oder Veränderungen der Festigkeitseigenschaften, oft in Richtung einer Versprödung, kommt. Letzteres spielt insbesondere bei Bestrahlung mit schnellen Neutronen in Kernreaktoren und zukünftigen Fusionsreaktoren eine Rolle. Diese Schadensart heißt Versetzungsschaden oder Displatzierungsschaden (engl. displacement damage) und wird meist in der Maßeinheit displacements per atom (Verlagerungen pro Atom), abgekürzt dpa, angegeben.[1] Eine weitere Art der Gefügeschädigung durch schnelle Neutronen ist die Erzeugung der Gase Wasserstoff und Helium im Material durch Kernreaktionen vom Typ (n,p) bzw. (n,alpha).

Strahlenschäden bei Lebewesen

Lebende Organismen – wie auch der Mensch – verfügen über komplexe, bislang nur im Ansatz verstandene Reparatursysteme, die die meisten dieser Schäden rückgängig machen können. Aber auch hier sammeln sich die verbleibenden mikroskopischen Schäden an. Generell können niedere Lebewesen wie Bakterien sehr viel stärkere Strahlungsdosen als höhere Lebewesen wie Säugetiere ertragen. So kann das Bakterium Deinococcus radiodurans sogar im Kühlwasser von Kernreaktoren leben.

Strahlenschutzvorschriften regeln in den meisten Ländern den Umgang mit Strahlen und mit Stoffen, die ionisierende Strahlung abgeben, und setzen – meist sehr emotional umstrittene – Grenzwerte für die maximale Belastung (Strahlendosis) der Bevölkerung fest.

Strahlenschäden bei Mensch und Tier lassen sich einteilen in:

  • Somatische Schäden, die beim bestrahlten Organismus selbst auftreten.
  • Teratogene Schäden, die während der Schwangerschaft eine Schädigung des Embryos verursachen.
  • Genetische Schäden, die erst bei den Nachkommen auftreten.

Bei den somatischen Schäden unterscheidet man Früh- und Spätschäden:

  • Somatische Frühschäden treten nach Stunden oder spätestens nach einigen Wochen auf (siehe Strahlenkrankheit). Medizinisch nachweisbar sind diese Schäden erst, wenn eine Mindestdosis (Schwelldosis) an Strahlung aufgenommen wurde, die für den Menschen zwischen 200 und 300 mSv liegt. Krankheitserscheinungen sind beispielsweise ein verändertes Blutbild, Übelkeit, Entzündung der Schleimhäute oder Fieber.
  • Somatische Spätschäden machen sich erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Bestrahlung äußerlich bemerkbar, obwohl die Zellen schon unmittelbar nach der Bestrahlung geschädigt wurden. Man kann bei den Spätschäden zwischen malignen (wie Leukämie) und nicht malignen Spätschäden (wie Unfruchtbarkeit oder eine Trübung der Augenlinse) unterscheiden.

Zellbiologische Wirkungen von Strahlung

Wirkungen auf molekularer Ebene

Trifft ionisierende Strahlung auf einen Organismus, können DNA-Veränderungen (Mutationen) im Zellkern auftreten. Beim Auftreffen von Strahlen auf die DNA können direkt sowohl Einzel- als auch Doppelstrangbrüche der Nucleotidketten auftreten. Außerdem spielt der indirekte Strahleneffekt eine wesentliche Rolle. Hierbei werden aus Wassermolekülen Radikale gebildet (OH- und H-Radikale), die neben anderen Molekülen die Desoxyribose angreifen können, was in Folge zu einer Hydrolyse der Phosphorsäureesterbindung führt. Zusätzlich kann eine Strahlenwirkung auf die Nucleotidbasen stattfinden. Hierbei kommt es beispielsweise zu einer Ringöffnungen und bei Anwesenheit von Sauerstoff zu Peroxidbildungen (z.B. Thyminhydroxyhydroperoxid). Ebenfalls sind nach Radikalbildung Dimerisierungen von Basen möglich, die zu einer räumlichen Veränderung der Doppelhelix führen. Bei der Transkription können Schäden an der DNA zur Folge haben, dass ein falsches Ablesen durch Basenschäden oder ein Stopp bei Einzelstrangbrüchen auftritt. Bei geringen Schäden ist jedoch auch eine ungestörte Transkription möglich. Neben der Strahlenwirkung auf die DNA kann generell die Struktur von Proteinen verändert werden. Bedeutungsvoll ist dies bei Enzymen, die dadurch ihre Enzymaktivität verlieren. Bei einer eukaryotischen Zelle werden Schäden zum größten Teil repariert. Findet eine falsche oder keine Reparatur statt, so zieht dies eine der beiden folgenden Konsequenzen nach sich.

Zelltod

Die Zelle verliert ihre Teilungsfähigkeit und stirbt nach Ablauf ihrer Lebensdauer. Sind ausreichend viele Zellen betroffen, ergeben sich deterministische Strahlenschäden. Da der Zelltod ein natürlicher Prozess im Zyklus einer differenzierten Zelle ist, bedarf es einer gewissen Schwellendosis, bevor ausreichend Zellen sterben und der schädliche Effekt sich manifestiert, indem das betroffene Gewebe seine Funktion verliert. Die Schwere des Schadens steigt proportional zu der Dosis. Zu den deterministischen Schäden gehören akute (Früh-) Schäden (zum Beispiel Erythem, akute Strahlenkrankheit), nichtkanzeröse Spätschäden (fibrotische Gewebsveränderungen, Trübung der Augenlinse, Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit, testikulare Anomalie) und teratogene Effekte (Fehlbildungen des Kindes während einer Schwangerschaft).

Zellveränderung

Die Zelle teilt sich, vererbt aber die veränderte DNS an die Tochterzellen weiter. Die Folge sind stochastische Strahlenschäden. Sie treten mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Exposition auf. Für sie gibt es vermutlich keine Schwellendosis; die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines solchen Schadens ist proportional zur Dosis. Die Höhe der Dosis beeinflusst dabei nicht die Schwere der Erkrankung, sondern nur die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens. Die stochastischen Strahlenschäden sind entscheidend bei niedrigen Dosen und für die Abschätzungen des Strahlenrisikos im Strahlenschutz. Sie haben ähnliche Auswirkungen wie zufällige, spontan entstehende DNS-Veränderungen, zum Beispiel Zell-Transformationen, die zu Krebs führen, Mutationen und Erbkrankheiten, oder auch teratogene Effekte.

Letale Dosis für Lebewesen und Viren

Die LD50|30-Werte (50 % Letalität nach 30 Tagen, nach Daten der IAEO) für Lebewesen bzw. Viren unterscheiden sich stark, da diese unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber ionisierenden Strahlen zeigen. Die Werte beziehen sich wie bei der Strahlenkrankheit auf kurzzeitige Ganzkörperbestrahlungen. Kurzzeitig bedeutet dabei kurz im Vergleich mit biologischen Heilungsprozessen; eine Expositionsdauer von wenigen Minuten ist also „kurz“, eine oder mehrere Stunden nicht mehr.

  • Meerschweinchen: 2,5–4 Gy
  • Ziege: 3,5 Gy
  • Mensch: 3–4,5 Gy
  • Hund: 4–5,5 Gy
  • Rhesusaffe: 5,5 Gy
  • Ratte: 6 Gy
  • Goldfisch: 8,5 Gy
  • Hamster: 9–11 Gy
  • Forelle: 15 Gy
  • Escherichia coli: 50 Gy
  • Fledermaus: 150 Gy
  • Schnecke: 200 Gy
  • Wespe: 1.000 Gy
  • Tabakmosaikvirus: 2.000 Gy
  • Bärtierchen: 5.700 Gy
  • Deinococcus radiodurans: 10.000 Gy

Geschichte

Am 28. Dezember 1895 veröffentlichte Wilhelm Conrad Röntgen seine Studie Über eine neue Art von Strahlen; einen Monat später berichtete er in einer Vorlesung erstmals über die geheimnisvollen »X-Strahlen« und röntgte vor den Augen der Zuschauer eine Hand des Schweizer Anatomie-Professors Rudolf Albert von Kölliker. Die belichtete Aufnahme – das Bild ist bis heute bekannt - zeigt deutlich erkennbar die Handknochen. Diese Erfindung löste große Begeisterung aus und revolutionierte die Medizin schnell. Die New York Sun sprach von einem »Triumph der Wissenschaft«: Röntgen habe »ein Licht entdeckt, das Holz und Fleisch durchdringt«.[2]

Ende 1896 dokumentierten Fachblätter 23 Fälle schwerer Strahlenschäden. Manche Patienten erlitten Verbrennungen durch unerwartete Streuungen; andere seien in den ersten Jahren der Anwendung »auf dem Behandlungstisch regelrecht hingerichtet« worden, schrieb James Ewing, ein Pionier der Radiologie.[3] Professor Friedrich Clausen (1864–1900), der zwischen 1896 und 1900 in zahlreichen Experimentalvorträgen die Röntgenstrahlung demonstrierte,[4] hatte schon 1896 Verbrennungen an den Händen. Diese ignorierte er, wie viele andere Kollegen auch. Er verlor erst einige Fingerglieder an der rechten Hand; später musste ihm der rechte Arm amputiert werden. Die Amputation kam zu spät; er starb sechs Wochen nach der Operation.[5]

Bleiabschirmungen wurden entwickelt, aber viele Ärzte fanden sie zu teuer bzw. umständlich, schützten sich nicht und starben. Man solle die Gesundheitsschäden nicht dramatisieren, forderte einer der führenden Radiologen, der Armenier Mihran Kassabian. Er fürchtete um den Fortschritt, wenn die Gefahren des Röntgens allzu plastisch beschrieben werden. Kassabian starb 1910 selbst an Strahlenfolgen.[2]

Herbert Hawks, ein technikbegeisterter Student der Columbia University, durchleuchtete in New Yorker Warenhäusern vor staunendem Publikum immer wieder den eigenen Körper. Bald fielen seine Haare aus, seine Augen waren blutunterlaufen, seine Brust brannte wie Feuer.

Im Ersten Weltkrieg setzte sich "das Röntgen" endgültig durch: man konnte zum Beispiel Geschosse oder Granatsplitter lokalisieren und Knochenbrüche richten. Die Strahlen wurden vorsichtiger dosiert; in den zwanziger Jahren bemühten sich viele Ärzte, die Strahlung so zu dosieren, dass die oberste Hautschicht (Epidermis) sich nicht rötlich färbte.[2]

Andere Wissenschaftler experimentierten mit Strahlen emittierenden Stoffen:

  • Der französische Physiker Henri Becquerel entdeckt im Februar 1896, dass Uranbrocken Strahlen aussenden, die Materie durchdringen, und entdeckte so die Radioaktivität.
  • Die polnische Physikerin Marie Curie prägte in Paris den Begriff radioaktiv für die Eigenschaft von Materialien, Strahlen auszusenden. Im Dezember 1898 identifizierte sie in einer Uranerzprobe aus dem Erzgebirge ein neues Element: Radium. Ohne die Gefahren zu ahnen, versuchten sie und ihr Mann, größere Mengen der stark radioaktiven Substanz zu isolieren und zu messen. 1934 starb sie 67-jährig und fast blind an Leukämie. Auch ihre Tochter wurde tödlich verstrahlt.[2]
  • 1903 entdeckte Ernest Rutherford, dass es Alpha-, Beta- und Gammastrahlung gibt und dass diese verschieden tief in den Körper eindringen.
  • Der britische Erfinder Alexander Graham Bell erkannte 1907 das Potenzial strahlender Substanzen für die Krebstherapie. Es gebe keinen Grund, warum man nicht „ein kleines Stückchen Radium […] mitten in einen Krebsherd“ platzieren sollte.

Radium war 1920 mit 120.000 Dollar je Gramm extrem teuer und wurde auch gegen Herzbeschwerden und Impotenz eingesetzt. In Uhrenfabriken trugen Arbeiterinnen mit feinen Pinseln Farbe mit Radiumpartikeln auf die Uhrzeiger auf, damit diese bei Dunkelheit leuchten. Viele Arbeiterinnen hatten nach kurzer Zeit schwere Strahlenschäden.[6]

Daneben gab es auch skurrile Anwendungen und -ideen, wie die US-Journalistin Catherine Caufield in ihrem Buch Das strahlende Zeitalter 1989 dokumentierte. Zum Beispiel mischte man Radiumpartikel in Ölfarben, damit das Bild bei Dunkelheit leuchtet. Radiumwasser wurde als „flüssiger Sonnenschein“ verkauft,[2] und die Thorium-haltige Zahnpasta „Doramad“.

Siehe auch

Weiterführende Literatur

Einzelnachweise

  1. M. Nastasi, J. W. Mayer: Ion Implantation and Synthesis of Materials. Berlin/ Heidelberg 2006, ISBN 3-540-23674-0, S. 85.
  2. 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4 Manfred Kriener: Ein GAU pro Jahr schadet nicht. – Wie gefährlich ist radioaktive Strahlung wirklich? Darüber gehen die Meinungen seit Röntgens Entdeckung heftig auseinander.. In: Die Zeit. Nr. 16/2011.
  3. Catherine Caufield: Das strahlende Zeitalter. München 1994, S. 21.
  4. An ihn wird auch im Ehrenbuch der Radiologen aller Nationen erinnert. 3. erw. Auflage Mai 1998, ISBN 3-89412-132-7.
  5. diss.fu-berlin.de (PDF) S. 2.
  6. Kellys Dreck. In: Der Spiegel. Nr. 2, 1988 (Bericht über einen Dokumentarfilm, online).

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