Ionische Flüssigkeit
Ionische Flüssigkeiten (engl. Ionic Liquids, auch Room Temperature Ionic Liquids (RTIL)) sind organische Salze, deren Ionen durch Ladungsdelokalisierung und sterische Effekte die Bildung eines stabilen Kristallgitters behindern. Bereits geringe thermische Energie genügt daher, um die Gitterenergie zu überwinden und die feste Kristallstruktur aufzubrechen. Es handelt sich somit um Salze, die bei Temperaturen unter 100 °C flüssig sind, ohne dass das Salz dabei in einem Lösungsmittel wie Wasser gelöst ist.
Beispiele für verwendete Kationen, die insbesondere alkyliert sein können: Imidazolium, Pyridinium, Pyrrolidinium, Guanidinium, Uronium, Thiouronium, Piperidinium, Morpholinium, Ammonium und Phosphonium. Als Anionen kommen Halogenide und komplexere Ionen, wie Tetrafluoroborate, Trifluoracetate, Triflate, Hexafluorophosphate Phosphinate und Tosylate in Frage. Auch organische Ionen, wie beispielsweise Imide und Amide, können Anionen sein.
Durch Variation der Substituenten eines gegebenen Kations und durch Variation des Anions können die physikalisch-chemischen Eigenschaften einer ionischen Flüssigkeit in weiten Grenzen variiert werden und auf technische Anforderungen hin optimiert werden. Neben dem Schmelzpunkt lässt sich so die Löslichkeit von zum Beispiel homogenen Katalysatoren, Produkten oder Edukten in der ionischen Flüssigkeit beeinflussen.
Geschichte
1914 beschrieb Paul Walden mit Ethylammoniumnitrat[1], das einem Schmelzpunkt von 12 °C aufweist, als erste Ionische Flüssigkeit in der Literatur. Dem Potential dieser Substanzklasse schenkte die Wissenschaft keine besondere Aufmerksamkeit. In den folgenden Jahren beschäftigten sich vor allem elektrochemische Publikationen[2][3] mit den Eigenschaften der neuartigen Substanz. Erst 1983, mit der Synthese von Chloroaluminat-Schmelzen[4] als nicht wässrige und polare Lösungsmittel für Übergangsmetallkomplexe, erkannte man das breite Anwendungsgebiet von Ionischen Flüssigkeiten. Die ersten Publikationen über deren Einsatz als Katalysatoren und als Lösungsmittel für organische Reaktionen gab es Ende der 1980er Jahre.[5][6]
Die Synthese von hydrolysestabilen Ionischen Flüssigkeiten gelang 1992 der Arbeitsgruppe um Wilkes[7] und trieb die Entwicklung rasch voran. Aktuelle Publikationen und zahlreiche Patente beschäftigen sich mit der Synthese[8][9][10] neuer Flüssigkeiten, mit deren Anwendung als Lösungsmittel und Katalysatoren[11][12][13], mit der systematischen Untersuchung ihrer chemischen und physikalischen Eigenschaften[14][15][16], mit toxikologischen Untersuchungen[17][18][19] und deren Anwendung im Bereich analytischer Trennprozesse[20][21][22][23][24].
Eigenschaften
Ionische Flüssigkeiten zeichnen sich durch eine Reihe interessanter Eigenschaften aus. Sie sind thermisch stabil, nicht entzündlich, haben einen sehr niedrigen, kaum messbaren Dampfdruck und verfügen über sehr gute Lösungseigenschaften für zahlreiche Substanzen. Auch besitzen sie aufgrund ihres rein ionischen Aufbaus interessante elektrochemische Eigenschaften, wie z. B. elektrische Leitfähigkeit, die oft auch von einer hohen elektrochemischen Stabilität gegen Oxidationen und Reduktionen begleitet wird. Die elektrostatischen Wechselwirkungen zwischen den Ionen lassen sich mit der Poisson-Boltzmann-Gleichung beschreiben.
Durch Variation der Seitenketten des Kations und die Auswahl geeigneter Anionen lässt sich zum Beispiel die Löslichkeit in Wasser oder organischen Lösungsmitteln weitgehend frei bestimmen. Ähnliches gilt für den Schmelzpunkt und die Viskosität. Durch entsprechende funktionelle Gruppen können sie als Säuren, Basen oder Liganden synthetisiert werden.
Verwendung
Die molekulare Vielfalt ionischer Flüssigkeiten ermöglicht prinzipiell Ihren Einsatz in einer Vielzahl technischer Anwendungsgebiete:
- Chemische Verfahrenstechnik
- Chemische Reaktionstechnik
- zur Synthese von Nanopartikeln und Nanomaterialien, wobei hierbei ionische Flüssigkeiten als Templat wirken
- Bioverfahrenstechnik[25][26]
- Ionischer Verdichter, einen isotherm arbeitenden Verdrängungskompressor
- als Lösungsmittel für organische und anorganische Synthesen sowie für die Synthese von Polymeren
- als Elektrolyt in Brennstoffzellen, Kondensatoren, Batterien, Metallveredelung, Farbstoffsolarzellen. Mit Hilfe der ionischen Flüssigkeiten ist es sogar möglich, Alkalimetalle galvanisch abzuscheiden.
- als Trennmittel und/oder Additiv: Schmiermittel und Hydraulikfluide, Antistatik-Additive.
- als elektroelastischer Werkstoff, z. B. in Aktoren
- Wärmetransport/ Wärmespeicherung: Thermofluide, PCM-Medien.
- als Spezialanalytika: Matrix-Materialien für GC-Headspace und MALDI-TOF-MS, Lösungsmittel für das Karl-Fischer-Verfahren, Medien für die Proteinkristallisation, Elektrophorese.
- Ionische Flüssigkeiten auf einkristallinen Oberflächen im Ultra-hoch-Vakuum werden in der Grundlagenforschung als Modellsysteme für Elektroden | Elektrolyt Grenzflächen genutzt [27]
Elektrolyt in Farbstoffsolarzellen
Mittels Farbstoffsolarzellen lässt sich gegenüber von kristallinen Silizium-Solarzellen ein weiterer Bereich des Lichtspektrums nutzen, was auch einen Einsatz bei diffusem Licht bzw. geringerer Lichtintensität ermöglicht. Die ionischen Flüssigkeiten können als neuartiges Elektrolytmaterial verwendet werden. Der Nutzen liegt hier bei ihrer Leitfähigkeit, die für den erforderlichen Ladungstranport sorgt. In Kombination mit den Eigenschaften eines niedrigen Schmelzpunktes und eines sehr geringen Dampfdrucks eröffnet sich ein Anwendungsbereich bei Temperaturen von −20 °C bis +80 °C. Zudem verfügen sie über eine hohe elektrochemische Stabilität. Eine aktuelle Markteinführung zielt auf eine Verwendung dieser Zellen z.B. als Ladegerät für mobile Telefone in Regionen ohne flächendeckende Stromversorgung.[28]
Celluloseveredelung
Cellulose ist mit einem Vorkommen von etwa 700 Milliarden Tonnen die mengenmäßig größte natürliche organische Chemikalie auf der Erde und damit als nachwachsender Rohstoff von großer Bedeutung. Selbst von den durch die Natur jährlich nachgebildeten 40 Milliarden Tonnen werden aber nur ca. 0,2 Milliarden Tonnen als Rohstoff für eine weitere Veredelung verwertet. Einer erweiterten Nutzung der Cellulose als nachwachsender Rohstoff steht bislang entgegen, dass es an einem geeigneten Lösemittel für chemische Prozesse fehlt. Robin Rogers und Kollegen von der University of Alabama haben allerdings herausgefunden, dass sich jetzt durch den Einsatz ionischer Flüssigkeiten erstmals echte Lösungen von Cellulose in technisch nutzbaren Konzentrationen bereitstellen lassen.[29][30][31] Die neue Technologie hat daher für die Verarbeitung von Cellulose großes Potenzial.
So müssen bei der Herstellung zum Beispiel von synthetischen Cellulosefasern (z. B. Viskose) aus sogenanntem Chemie-Zellstoff derzeit verschiedene Hilfschemikalien, speziell Kohlenstoffdisulfid (CS2), in großen Mengen eingesetzt und anschließend entsorgt werden. Zusätzlich müssen verfahrensbedingt erhebliche Mengen von Abwasser entsorgt werden. Diese Prozesse lassen sich durch den Einsatz ionischer Flüssigkeiten maßgeblich vereinfachen, da sie als Lösungsmittel verwendet und fast vollständig rezykliert werden. Das „Institut für Textilchemie und Chemiefasern“ (ITCF) in Denkendorf und BASF untersuchen gemeinsam die Eigenschaften von Fasern, die in einer Pilotanlage aus mit Hilfe von ionischen Flüssigkeiten gelöster Zellulose gesponnen werden.[32]
Die gute Löslichkeit von Cellulose in ionischen Flüssigkeiten eröffnet vielfältige neue Möglichkeiten bei der chemischen Modifizierung dieser zur Herstellung von Werkstoffen auf Basis nachwachsender Rohstoffe.[28] In einer einstufigen Synthese kann Cellulose in Gegenwart von gekoppelten Kupfer-II-chlorid/Chrom-II-chlorid-Katalysatoren im Lösungsmittel 1-Ethyl-3-methylimidazoliumchlorid bei 80-120 °C zu 5-Hydroxymethylfurfural (HMF) umgesetzt werden, welches als wichtiger Baustein für Kunststoffe auf der Basis von Biomasse gilt.[33][34]
Umweltbilanz
Die langfristigen Umweltauswirkungen ionischer Flüssigkeiten werden noch untersucht. Bekannt ist derzeit, dass vor allem ionische Flüssigkeiten mit längeren Alkyl-Seitenketten tendenziell toxisch sind. Auch wenn aufgrund der Nichtflüchtigkeit der Verbindungen keine Vergiftungsgefahr durch Inhalation besteht, können Abwässer problematisch sein. Aufgrund der großen Zahl an Kombinationsmöglichkeiten rechnet man aber damit, mittelfristig die gewünschten physikalisch-chemischen Eigenschaften bei möglichst geringer Toxizität zu erzielen.
Siehe auch
Weblinks
- Feature im Deutschlandfunk
- Ionische Flüssigkeiten @OCP
- Freie Datenbank zu Toxikologie and Ökotoxikologie Ionischer Flüssigkeiten (in englischer Sprache)
- Datenbank zu Eigenschaften, Analytik und Synthesevorschriften Ionischer Flüssigkeiten (in englischer Sprache)
- Prof. Dr. Bernhard Roling: Geschichte von ionischen Flüssigkeiten (Video auf chymatrie.de)
- Prof. Dr. Bernhard Roling: Eigenschaften von ionischen Flüssigkeiten (Video auf chymatrie.de)
- Adsorbierte Monolagen einer ionischen Flüssigkeit abgebildet mit einem Rastertunnelmikroskop
- ARXPS-Messungen von dünnen Filmen einer Ionischen Flüssigkeit
Einzelnachweise
- ↑ P. Walden, in: Bull. Acad. Sci. St. Petersburg 1914, 405–422.
- ↑ F. Hurley; U.S Patent 2 446 331 1948.
- ↑ F. Hurley, T. P. Wier Jr, in: Electrochem. Soc. 1951, 98, 207.
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