84. Das Ethin oder Acetylen
Das Ethin ist ein Vertreter der Alkine
Wenn man dem Ethan vier Wasserstoffatome entzieht, so erhält man einen Kohlenwasserstoff, der noch ungesättigter als das Ethen ist: das Ethin oder Acetylen. Entsprechend lautet die Formel C2H2. Die Vierbindigkeit des Kohlenstoffs kann nur gewahrt werden, wenn man eine Dreifachbindung annimmt:
$\quad \mathrm { H \ – \ C \ ≡ \ C \ – \ H } $
Die stark ungesättigte homologe Reihe der Alkine (SummenformelCnH2n-2) wird vom Ethin angeführt. Die Benennung der Alkine nach den IUPAC-Regeln orientiert sich an den Namen für die Alkane. Als Stammnamen für das Alkin wählt man den Wortstamm des Alkans mit gleicher Anzahl an Kohlenstoffatomen und ersetzt die Endsilbe -an durch -in. Die ersten beiden Vertreter der homologen Reihe dieser Stoffgruppe sind Ethin und Propin. Die Lage der Dreifachbindung wird mit einer vorgestellten Zahl beschrieben, so dass diese möglichst klein ist (z.B. 1-Butin und 2-Butin). Enthält die Kohlenstoffkette mehrere Dreifachbindungen, so fügt man im Namen vor der Silbe in die Silbe di, tri, tetra usw. ein. So erhält ein Alkin mit fünf (griechisch penta) C-Atomen und zwei Dreifachbindungen nach dem 1. und 4. C-Atom den IUPAC-Namen 1,4-Pentadiin.
Darstellung des Ethins
Ethin hat auf der Erde kein natürliches Vorkommen. Außerhalb der Erde wurde es in der Atmosphäre des Jupiters sowie in interstellarer Materie nachgewiesen. Die jährliche Weltproduktion lag 1998 bei 122.000 Tonnen. Großtechnisch wird Ethin mittels Hochtemperaturpyrolyse von leichten oder mittleren Erdölfraktionen oder Erdgas bei 2.000 °C hergestellt.
Nach der Pyrolyse wird das entstandene Gasgemisch schnell unter 200 °C abgekühlt (gequencht), um die weitere Zersetzung zum elementaren Kohlenstoff und Wasserstoff zu vermeiden. Man erhält ein Ethin-Ethen-Gemisch, aus dem das Ethin fraktioniert wird. Die Wärmeübertragung kann verschieden erfolgen; das modernste Verfahren ist die Wasserstoff-Lichtbogen-Pyrolyse, ein älteres, noch häufig verwendetes Verfahren ist die Lichtbogen-Pyrolyse. Wenn man beispielsweise gebrannten Kalk mit Koks unter hoher Energiezufuhr zur Reaktion bringt (z.B. im elektrischen Lichtbogen) entsteht Calciumcarbid.
$ \mathrm {458 \ kJ + CaO + 3 \ C \ \longrightarrow \underbrace {CaC_2}_{Calciumcarbid} + CO \uparrow} $
Das Calciumcarbid setzt sich mit Wasser und Calciumhydroxid zu Ethin und um:
$ \mathrm {CaC_2 + H_2O \ \longrightarrow \ H \ – \ C \ ≡ \ C \ – \ \uparrow + Ca(OH)_2 \ \downarrow } $
Ethin bildet sich auch in der Sonnenatmosphäre:
$ \mathrm {226 \ kJ + 2 \ C + 2 \ H \ \longrightarrow \ C_2H_2} $
Eigenschaften
Ethin bildet wie alle niederen Kohlenwasserstoffe mit Luft leicht entzündbare Gemische. Zusätzlich neigt Ethin als stark endotherme, also energiereiche Verbindung zum explosiven Selbstzerfall in die Elemente. Beim Abbau der Dreifachbindung wird unter Energiefreisetzung ein stabilerer (= energieärmerer) Zustand erreicht.
In reinem Zustand riecht Ethin schwach etherisch und ist ungiftig. Aus technischem Calciumcarbid (CaC2) hergestelltes Ethin hat oft einen unangenehmen, leicht knoblauchähnlichen Geruch, der von Verunreinigungen herrührt. Meistens handelt es sich dabei um Phosphin (PH3), Arsin (AsH3), Ammoniak (NH3) und Schwefelwasserstoff (H2S), die bei der technischen Herstellung aus Calciumcarbid mitentstehen. Da Ethin in Wasser etwas löslich ist, fängt man es am besten über Natriumchloridlösung auf. Ethin ist leichter als Luft.
Ethin brennt mit stark rußender Flamme. Führt man jedoch wie beim Schweißen Sauerstoff zu, zeigt sich der hohe Energieinhalt des Ethins; es werden Temperaturen bis 3100 °C erreicht:
$ \mathrm {H \ – \ C \ ≡ \ C \ – \ H + 5 \ O_2 \ \longrightarrow \ 4 \ CO_2 + H_2O + 2614 \ kJ} $
Die Löslichkeit von Ethin in Wasser beträgt bei Atmosphärendruck nur 1,23 Gramm pro Kilogramm, wohingegen die Löslichkeit in Ethanol und Aceton mit 27,9 Gramm pro Kilogramm sehr gut ist. Verdichtetes oder verflüssigtes Ethin ist höchst explosiv, daher löst man es für den Versand und Gebrauch in Aceton. Dieses als »Dissousgas« bezeichnete Gas lässt sich in Stahlflaschen gefahrlos lagern und transportieren.
Dreifachbindung - ungesättigter Charakter
Die Dreifachbindung ermöglicht die schon vom Ethen her bekannten Additionsreaktionen. Bei vorsichtigem Arbeiten sind auch die Zwischenprodukte faßbar:
$\ \mathrm { H \ – \ C \ ≡ \ C \ – \ H \quad + \ Cl_2 \ \longrightarrow \ \underbrace {{\overset {\Large H \qquad \qquad} {\overset { \diagdown \qquad } {\underset {\Large Cl \qquad \qquad} {\underset { \diagup \qquad } C}}}} \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! = \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! {\overset { \qquad \qquad \Large Cl} {\overset {\qquad \diagup } {\underset {\qquad \qquad \Large H } {\underset {\qquad \diagdown }C }}}}}_{1,2-Dichlorethen} } $
$ \mathrm { {\overset {\Large H \qquad \qquad} {\overset { \diagdown \qquad } {\underset {\Large Cl \qquad \qquad} {\underset { \diagup \qquad } C}}}} \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! ≡ \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! {\overset { \qquad \qquad \Large Cl} {\overset {\qquad \diagup } {\underset {\qquad \qquad \Large H } {\underset {\qquad \diagdown }C }}}} \ + \ Cl_2 \ \longrightarrow \ \underbrace {Cl \ – \ { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large Cl} {\underset {|}{C}}}}} \ – \ { \overset {\Large Cl} {\overset {|} { \underset {\Large H} {\underset {|}{C}}}}} \ – \ Cl}_{1,1,2,2-Tetrachlorethan} }$
Anders als Ethen kann Ethin auch Stoffe wie Wasser oder Blausäure (H—CN) ohne größere Schwierigkeiten anlagern:
$ \mathrm { H \ – \ C \ ≡ \ C \ – \ H\ + \ H \ – \ OH \ \longrightarrow \ \underbrace {H \ – \ { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large H} {\underset {|}{C}}}}} \ – \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! {\overset { \qquad \ \ \quad {\Large O}} {\overset {\qquad \diagup \!\! \diagup } {\underset {\qquad \qquad {\Large H} } {\underset {\qquad \diagdown }C }}}}}_{Acetaldehyd} } $
$ \mathrm { H \ – \ C \ ≡ \ C \ – \ H\ + \ H \ – \ CN \ \longrightarrow \underbrace {{\overset {\Large H \qquad \qquad} {\overset { \diagdown \qquad } {\underset {\Large H \qquad \qquad} {\underset { \diagup \qquad } C}}}} \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! = \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! {\overset { \qquad \qquad \Large H} {\overset {\qquad \diagup } {\underset {\qquad \qquad {\Large CN} } {\underset {\qquad \diagdown }C }}}}}_{Acrylnitril} } $
Verwendung
Acetaldehyd und Acrylnitril sind als Zwischenprodukte für organische Synthesen von Bedeutung. Aus Acrylnitril entsteht durch Polymerisation Polyacrylnitril, das zu Textilfasern versponnen wird (Kapitel 56).
Ungefähr 80 % des Ethins wird für die organische Synthese verwendet. Durch Addition von Halogenwasserstoffen werden Vinylhalogenide und Polyvinylhalogenide, zum Beispiel Vinylchlorid oder Polyvinylchlorid hergestellt. Durch Addition von Essigsäure wird Vinylacetat und Polyvinylacetat hergestellt, durch Addition von Alkohol Vinylether und Polyvinylether. Besonders die hergestellten Polymere sind von industrieller Bedeutung.
Der aus Ethin gewonnene Acetylenruß wird als Kautschukzusatz bei der Herstellung von schwarzem Gummi oder zur Produktion von Druckerschwärze sowie in Batterieneingesetzt. Aufgrund der hohen Bindungsenergie der Dreifachbindung wurde Ethin zu Beleuchtungszwecken (Karbidlampe) verwendet und wird heutzutage häufig als Dissousgas zum autogenen Schweißen und Schneiden verwendet. Im Handel wird es in kastanienbraunen (früher gelben) Flaschen verkauft. Bis in die 1950er Jahre wurde reines Ethin gemischt mit 60 % Sauerstoff, Narcylen genannt, als Narkosemittel verwendet. Als es jedoch zu Explosionen kam, wurde es nicht mehr verwendet.
Auch in der Mikroelektronik und Mikrotechnik wird Ethin eingesetzt. Hier dient es z. B. zum Abscheiden von Diamant-, Graphit- oder Polyacetylenschichten und zur Herstellung von Nanoröhren.