99. Glycerin - ein dreiwertiger Alkohol
Begriff
Glycerin (von gr. glykerós ,süß‘, nach IUPAC Glycerol) ist der Trivialname und die gebräuchliche Bezeichnung von Propan-1,2,3-triol. Glycerin ist ein Zuckeralkohol und der einfachste dreiwertige Alkohol. Der Name Glycerol wurde eingeführt, da er die korrekte Endung -ol für einen Alkohol besitzt (die Endung -in steht nämlich für Alkine oder Amine).
Glycerin ist in allen natürlichen Fetten und Ölen als Fettsäureester vorhanden und spielt eine zentrale Rolle als Zwischenprodukt in verschiedenen Stoffwechselprozessen. Als Lebensmittelzusatzstoff trägt es das Kürzel E 422.
Glycerin ist zähflüssig
Der Vergleichsversuch 1 zeigt, dass das Glycerin durch seine geringe Auslaufgeschwindigkeit besonders zähflüssig (viskos) ist. Da Glykol zwei Kohlenstoffatome, Glycerin drei Kohlenstoffatome aufweist, kann die hohe Viskosität gegenüber Propanol nicht durch Van-der-Waals-Kräfte allein erklärt werden. Dies führt zu der Erkenntnis: Glykol hat mehr Hydroxygruppen als Propanol, und Glycerin hat mehr als Glykol. Die Polarität und die Hydroxygruppen erklären den flüssigen Aggregatzustand der Alkohole gegenüber den Alkanen allgemein, speziell aber die hohe Viskosität, die hohen Siedepunkte, das hygroskopische Verhalten und die Unlöslichkeit von Glykol und Glycerin in Alkanen.
Diese Alkohole werden nach der Zahl der Hydroxygruppen benannt: Glykol und Glycerin.
$ \mathrm { H \ – { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large H} {\underset {|}{C}}}}} \ – { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large H} {\underset {|}{C}}}}} – { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large H} {\underset {|}{C}}}}} \ – \ OH } $ 1-Propanol |
$ \mathrm { H \ – { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large OH} {\underset {|}{C}}}}} \ – \ { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large OH} {\underset {|}{C}}}}} \ – \ H }$ Glykol |
$ \mathrm { H \ – { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large OH} {\underset {|}{C}}}}} \ – \ { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large OH} {\underset {|}{C}}}}} \ – { \overset {\Large H} {\overset {|} { \underset {\Large OH} {\underset {|}{C}}}}} \ – \ H \ } $ Glycerin |
Die hohen Siedepunkte sind auf Wasserstoffbrückenbindungen zurückzuführen:
$ \mathrm { \color{Red}\cdots \ \color{Black}HO \ — \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! {\overset {H} {\overset {|} {\overset { \;\;\;\;\; {\Large {H \ — \ C \ — \ \overset H O} \ \color{Red}\cdots}} {\overset {|} {\underset {H} {\underset {|} {\underset { \;\;\;\;\; {\Large {H \ — \ C \ — \ \underset {H} O } \ \color{Red}\cdots}} {\underset {|} {C}}}}}}}}} \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! — \color{Black}H \quad \quad \;\;H \ — \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! {\overset {H} {\overset {|} {\overset { \!\!\!\!\! {\Large {\color{Black}HO \ — \ C \ — \ H}}} {\overset {|} {\underset {H} {\underset {|} {\underset { \!\!\!\!\! {\Large {HO \ — \ C \ — \ H }}} {\underset {|} {C}}}}}}}}} \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! — OH \ \color{Red}\cdots \color{Black}\overset H O \ — \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! {\overset {H} {\overset {|} {\overset { \;\;\;\;\; {\Large {H \ — \ C \ — \ \overset H O} \ \color{Red}\cdots}} {\overset {|} {\underset {H} {\underset {|} {\underset { \;\;\;\;\; {\Large {\color{Black}H \ — \ C \ — \ \underset {\color{Black}H} O } \ \color{Red}\cdots}} {\underset {|} {C}}}}}}}}} \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! — H \quad \quad \;\;H \ — \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! {\overset {H} {\overset {|} {\overset { \!\!\!\!\! {\Large {\color{Black}HO \ — \ C \ — \ H}}} {\overset {|} {\underset {H} {\underset {|} {\underset { \!\!\!\!\! {\Large {\color{Black}HO \ — \ C \ — \ H }}} {\underset {|} {C}}}}}}}}} \!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\!\! — \color{Black}OH \ \color{Red}\cdots } $
Propanol | eine OH-Gruppe | einwertig |
Ethandiol | zwei OH-Gruppen | zweiwertig |
Propantriol | drei OH-Gruppen | dreiwertig |
Der süße Geschmack des Glykols und Glycerins wird auf die Häufung von Hydroxygruppen zurückgeführt.
Glycerin - verstärkte Reduktionswirkung durch drei OH-Gruppen
Schon einwertige primäre und sekundäre Alkohole lassen sich leicht oxidieren. Diese Reduktionswirkung der Alkohole wird durch die drei Hydroxygruppen des Glycerins noch verstärkt. Glycerin entzündet sich unter der Einwirkung des starken Oxidationsmittels Kaliumpermanganat. Dabei ist die reduzierende Wirkung des Glycerins als Aufnahme von Sauerstoff zu erklären. Die Reduktion von Ag+ der ammoniakalischen Silbernitratlösung (Versuch 4) erklärt man als Elektronenaufnahme.
$ \mathrm { {Ag}^+ + \ e^- \longrightarrow \ Ag \ \downarrow } $
Das elementare Silber scheidet sich als Silberspiegel ab.
Glycerin - vielseitig verwendbar
Lebensmittel & Kosmetik
Unter anderem ist der Stoff wegen seiner wasserbindenden Eigenschaften in Kosmetikartikeln als Feuchtigkeitsspender enthalten. Als Lebensmittelzusatzstoff findet Glycerin unter der Nummer E 422 Anwendung zur Feuchthaltung, etwa für Datteln oder Kaugummi, aber auch als Süßungsmittel.
Haushalt
Im privaten Gebrauch wird Glycerin häufig in das Wasser von Weihnachtsbaumständern gegeben, um den Weihnachtsbaum länger frisch zu halten. Das Glycerin sorgt für Frostschutz und führt dazu, dass die Nadeln länger halten. Glycerin findet aufgrund seiner feuchtigkeitsspendenden Wirkung Verwendung in Lederpflegemitteln und Schuhcremes um Leder glatt und geschmeidig zu halten.
Tabak & Zigaretten
Glycerin wird zusammen mit 1,2-Propandiol als Feuchthaltemittel für Tabakwaren verwendet, wobei die Tabakverordnung den Zusatz auf 5% beschränkt. Im Zigaretten- und Pfeifentabak sollen die Feuchthaltemittel vor allem die Lagerungszeiten der Produkte verlängern und die Austrocknung verhindern.
Industrie und Technik
Glycerin wird als Frostschutzmittel, Schmierstoff und Weichmacher verwendet. Bei der Herstellung von Kunststoffen, Microchips, Farbstoffen sowie Zahnpasta wird die Substanz als Reaktant benötigt. Glycerin lässt sich in einem neuen Verfahren unter Einwirkung von Ameisensäure zu einem chemischen Grundbaustein, dem Allylalkohol, umsetzen.
Ausgangsstoff für den Sprengstoff Nitroglycerin
Bringt man Glycerin mit einer Mischung aus Salpetersäure und Schwefelsäure, der so genannten Nitriersäure, zur Reaktion, entsteht Glycerintrinitrat, das man besser unter dem Namen »Nitroglycerin« kennt. Bei der Explosion können z. B. aus 4mol »Nitroglycerin« 12mol Kohlendioxid, 12 mol Wasserdampf, 1 mol Sauerstoff und 6 mol Stickstoff entstehen. Auf dieser beträchtlichen Volumenzunahme beruht u. a. die Sprengwirkung. »Nitroglycerin« gehört zur Stoffklasse der Ester, die ab Kapitel 106 behandelt werden. Es explodiert bereits bei einem Fallhammerversuch mit einem 2-kg-Fallhammer aus einem Zentimeter Höhe. Die Flüssigkeit wird in extrem kurzer Zeit vollständig in gasförmige Produkte umgewandelt, was zu dieser massiven Volumenausdehnung führt. Wird dieser Ester durch poröse Stoffe wie Kieselgur aufgesaugt, kann er gefahrlos transportiert werden.
Im Jahre 1847 stellt der Turiner Arzt und Chemiker Ascanio Sobrero erstmals Nitroglycerin her, aus dem Alfred Nobel 1867 Dynamit gewann. 1875 stellte er aus Nitroglycerin undZellulosenitrat (Kollodiumwolle) den bis dahin stärksten gewerblichen Sprengstoff her, die Sprenggelatine.
Landwirtschaft
Bei wachsenden Futtermittelpreisen interessiert man sich für Glycerin als Futtermittel für Rinder, Schweine und Hühner.
Medizin
Glycerin wird in der Medizin als Arzneistoff zur Behandlung des Hirnödems eingesetzt. Dazu wird es als 10 %ige Lösung als Infusion verabreicht. In Form glycerinhaltiger Zäpfchen kommt es als Abführmittel (Laxans) zur Anwendung. Gegenstand medizinischer Forschung ist die Verwendung von Glycerin zur Aufrechterhaltung der menschlichen Hirn- und Organfunktionen während einer künstlichen Absenkung der Körpertemperatur. Dies könnte für langwierige schwierige medizinische Operationen von Bedeutung sein. Biologisches Vorbild ist der kanadische graue Laubfrosch Hyla versicolor, dessen Körperzellen sich zur Überwinterung mit Glycerin anreichern.