Kieselgur
Kieselgur (femininum) (auch Bergmehl, Diatomeenerde, Diatomeenpelit, Diatomit, Infusorienerde, Kieselmehl, Novaculit, Tripel, Tripolit, Celit) ist eine weißliche, pulverförmige Substanz, die hauptsächlich aus den Siliciumdioxidschalen fossiler Kieselalgen (Diatomeen) besteht.
Die Schalen bestehen zum größten Teil aus amorphem (nicht-kristallinem) Siliciumdioxid (SiO2) und weisen eine sehr poröse Struktur auf. Ein Milliliter reine Kieselgur enthält etwa eine Milliarde Diatomeenschalen und deren Bruchstücke. „Gu(h)r“ ist ein niederdeutscher Volksausdruck mit der Bedeutung „feuchte, aus dem Gestein ausgärende Masse“. Aus geologischer Sicht ist Kieselgur ein aus fossilem Diatomeenschlamm entstandenes Sedimentgestein, sehr fein geschichtet wird es als „Tripel“ bezeichnet. Aufgrund seiner Materialeigenschaften, leicht und hochporös, ist Kieselgur ein geschätzter Rohstoff und wird industriell genutzt.[1]
Entstehung der Vorkommen
Die Kieselgurvorkommen in Norddeutschland entstanden in den Zwischeneiszeiten und sind einige hunderttausend Jahre alt. Das kieselsäurehaltige Wasser der Seen enthielt Myriaden von Kieselalgen in Hunderten verschiedenen Arten. Diese Diatomeen, die auch heute noch in Seen und Meeren leben, können sich alle paar Stunden durch Zweiteilung der Zellen fortpflanzen. Man schätzt, dass unter idealen Bedingungen in einem Monat aus einer Kieselalge eine Milliarde Exemplare heranwachsen können. Diese Diatomeen schweben im Wasser, sinken nach dem Absterben zu Boden und bilden allmählich dicke Ablagerungen. Durch geologische Veränderungen, wie etwa Bodenerhebungen, gelangen sie später an die Erdoberfläche.
Die unterschiedlichen Kieselgur-Arten
Man unterscheidet Salzwasser-Kieselgur und Süßwasser-Kieselgur.
Die Kieselgur lagerte sich in drei Schichten mit unterschiedlicher Färbung ab. Die Färbung der Kieselgur resultiert aus dem unterschiedlichen Gehalt an Resten organischen Substanzen.
Je tiefer die Schichten liegen, desto höher ist der Anteil an organischen Bestandteilen.
Weiße Gur
Die oberste Schicht ist die „Weiße Gur“. Sie lagert teilweise unmittelbar unter der Erdoberfläche. Mit drei bis fünf Prozent enthält sie nur noch sehr wenig organische Bestandteile.
In den Anfangsjahren wurde nur die Weiße Gur abgebaut.
Graue Gur
Durch die später eingeführte Technik des Brennens konnten inzwischen die organischen Bestandteile entfernt werden. Jetzt wurden auch die anderen Arten abgebaut und genutzt.
Unter der Weißen Gur liegt die „Graue Gur“. Sie enthält bis zu zehn Prozent organische Bestandteile.
Grüne Gur
Die unterste Schicht bezeichnet man als die „Grüne Gur“. Sie enthält noch etwa 36 Prozent organische Bestandteile. Die Grüne Gur lag auf der Höhe des Grundwasserspiegels.
Vorkommen und Abbau
1836 oder 1837 soll der Bauer und Frachtfuhrmann Peter Kasten[2][3] beim Ausschachten eines Brunnens, am Nordhang des Haußelberges, in der Lüneburger Heide die Kieselgur entdeckt haben. Man glaubte zunächst Kalk zum Düngen gefunden zu haben. Auch Pfannkuchen wollte man damit backen, da es dem Getreidemehl ähnelte. Alfred Nobel nutzte die Eigenschaften der Kieselgur zur Herstellung von Dynamit. Der Celler Ingenieur Wilhelm Berkefeld erkannte die Filtrierfähigkeit und entwickelte die aus Kieselgur gebrannten Filterkerzen.[4] Bei der Cholera-Epidemie in Hamburg 1892 wurde dieser Berkefeld-Filter erfolgreich eingesetzt.
Abbau- und Lagerstätten in der Lüneburger Heide
- Neuohe, Abbau von 1863 bis 1994
- Wiechel von 1871 bis 1978
- Hützel von 1876 bis 1969
- Hösseringen von etwa 1880 bis 1894
- Hammerstorf von etwa 1880 bis 1920
- Oberohe von 1884 bis 1970
- Schmarbeck von 1896 bis ca. 1925
- Steinbeck von 1897 bis 1928
- Breloh von 1907 bis 1975
- Schwindebeck von 1913 bis 1975
- Hetendorf von 1970 bis 1994
Die Lagerstätten wiesen Mächtigkeiten von bis zu 28 Metern auf. Es handelt sich ausschließlich um Süßwasser-Kieselgur.
Bis zum Ersten Weltkrieg wurde fast der gesamte weltweite Bedarf mit Kieselgur aus dieser Region gedeckt.
Andere Vorkommen
In Deutschland wurde Kieselgur außerdem noch in Altenschlirf[5] am Vogelsberg (Oberhessen) und in Klieken[6] (Sachsen-Anhalt) abgebaut.
Eine bis zu vier Meter starke Kieselgurschicht entstand auch im Naturschutzgebiet Soos in Tschechien.
In Colorado und in Clark im Bundesstaat Nevada (USA) befinden sich Lagerstätten, die zum Teil mehrere hundert Meter stark sind.
Teilweise findet sich Kieselgur in Wüsten auch an der Oberfläche. Der Abrieb des Kieselgurs auf solchen Flächen (etwa in der Bodélé-Senke in der Sahara) gehört zu den bedeutendsten Quellen klimawirksamen Staubs in der Atmosphäre.
Tagebau
Die Kieselgur wurde im Tagebau gewonnen. In den Anfängen wurde die Kieselgur mit der Hand abgestochen und auf Schubkarren aus der Grube transportiert. Später wurde sie in Loren gefüllt, die mit Pferden oder Seilwinden aus der Grube gezogen wurden. Ab den 1950er-Jahren wurden die Loren von Loks gezogen. Der Abbau erfolgte inzwischen mit Löffelbaggern.
Bedeutung
In der Lüneburger Heide befanden sich die ersten Kieselgurgruben der Welt. Der Kieselgurabbau entwickelte sich für diese Region zu einem wichtigen Wirtschaftszweig. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde in Niedersachsen 20.000 bis 25.000 Tonnen Kieselgur produziert. Das deckte damals fast den gesamten Weltbedarf an diesem Rohstoff. Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte die Produktion 50.000 bis 60.000 Tonnen.
Ende des Abbaus in Norddeutschland
1994 wurde der Abbau in Norddeutschland unrentabel und eingestellt. Die Umweltauflagen bei der Entsorgung des Sickerwassers waren eine der Ursachen. Das abgepumpte Wasser hatte einen pH-Wert von 3,8 bis 4,8 und musste durch Beimischung von Soda und Kalk auf einen pH-Wert von 8,5 gebracht werden, bevor es in die Bäche abgeleitet werden durfte. Auch dadurch war die importierte Gur aus den Vereinigten Staaten inzwischen billiger als die Produktionskosten der einheimischen Kieselgur.
Aufbereitung
1. Schlämmen
Die gewonnene Kieselgur enthielt bis zu 30 Prozent Sand. In einem Schlämmprozess musste die Kieselgur entsandet werden.
Dazu wurde sie in einem Rührbottich zu einem dünnen Brei aufgelöst. Dieser durchfloss mehrere Bassins, in denen sich die schweren sandigen Bestandteile absetzten.
Die von Sand befreite Kieselgur gelangte in Schlämmkästen und setzte sich hier ab. Anschließend wurde die Schlämmgur abgestochen und getrocknet.
2. Trocknen
Die geförderte Kieselgur enthielt bis zu 70 Prozent Wasser und konnte daher so nicht verwendet werden. Sie musste auf handelsübliche zehn Prozent herunter getrocknet werden. Die Gur wurde dazu teilweise in einer Presse zu Steinen geformt. Anschließend erfolgte an der Luft die Trocknung, auf Trocknungsplätzen oder in Trockenschuppen.
Diese Trocknung war nur in den Sommermonaten möglich. Die Dauer hing entscheidend von den Witterungsverhältnissen ab.
Die erste künstliche Trocknung von Kieselgur erfolgte in den Kriegsjahren 1917/18 in Steinfurt bei Altenschlirf in Hessen. Man benötigte Kieselgur für die Filter der Gasmasken.
3. Brennen
Die Kieselgur wurde in meilerartigen Brennhaufen (ähnlich der Holzkohlenmeiler) oder in Brennschuppen, bei höchstens 800 °C, gebrannt. Die durchschnittliche Brenndauer betrug drei bis vier Wochen.
Durch das Brennen wurden die organischen Bestandteile entfernt. Es veränderte sich auch die Farbe aufgrund des Eisenoxids das in der Kieselgur enthalten war.
Die „Graue Gur“ zeigte eine weißliche bis rein weiße Farbe, die „Grüne Gur“ nahm wegen ihres hohen Gehaltes an Eisenoxid eine gelbliche, hellrosa bis rötliche Farbe an.
Beim Brennen entwichen übelriechende schwefelsäurehaltige Dämpfe.
Aufbereitung durch Öfen
Schachtofen
Die Schachtöfen bestanden aus drei Meter langen Schächten, in die von unten 230 °C heiße Luft durch die Kieselgur eingeblasen wurde. Die organischen Substanzen und das Eisen wurden hierbei aber nur unvollständig entfernt. Man erhielt eine „Saure Schachtofen-Gur“ im pH-Wert von unter 7.
Etagenofen
Diese Öfen bestanden aus acht verschiedenen Etagen.
- In den ersten vier Etagen wurde die Gur getrocknet.
- In den beiden folgenden Etagen wurde sie bei 600 bis 800 °C gebrannt.
- In den letzten beiden Etagen wurde die Kieselgur abgekühlt.
Windsichtung
Teilweise wurde die Kieselgur, zum Beispiel die Gur, die zur Filtration verwandt werden sollte, windgesichtet. Durch einen Luftstrom wurden Sand und andere Grobteile entfernt.
Eigenschaften
- hohes Aufsaugvermögen
- geringes spezifisches Gewicht
- schlechter Wärmeleiter
- Feuer- und Säurebeständigkeit
- hohe Filtereigenschaften
- natürliches Biozid
- verhindert eine Dispersion von Farben und Lacken
Verwendung
Kieselgur ist vielseitig verwendbar, unter anderem als Filter für Abwässer, Getränke, Öle oder in Schwimmbädern. Als Füllstoff in Wärmedämmungen, Baustoffen, Anstrichmitteln, Kunststoffen, Papier, Tabletten und Pudern. Als Schleif- und Poliermittel, als Abrasiv in Reinigungsmitteln, in der Tierfütterung, als Träger für Düngemittel, Biozide, Insektizide und Katalysatoren.
Anwendung in der Zahnmedizin, u.a. als Bestandteil von Abformmaterialien, wie Alginat. Hier dient es als Füllstoff und erhöht die Materialfestigkeit nach der Abformung der Zahnreihen.
In der biologischen Landwirtschaft, beispielsweise bei Hühnerhaltern (Milbenbekämpfung), wird Kieselgur als natürliches Pestizid geschätzt: Die feinen Schalenbruchstücke sollen mechanische Schäden beispielsweise im Verdauungstrakt von Insekten und Milben hervorrufen und zur Austrocknung führen.
Während des Zweiten Weltkrieges diente es als Trägermaterial für Zyklon-B-Gas, welches zum Massenmord in deutschen Vernichtungslagern eingesetzt wurde.
Wird das erschütterungsempfindliche Nitroglycerin mit Kieselgur vermengt, entsteht daraus das stoßunempfindliche Dynamit, das deshalb in der älteren Literatur auch als „Gurdynamit“ bezeichnet wird. Durch diese Erfindung kam Alfred Nobel zu seinem großen Vermögen. Da die Kieselgur nicht an der Explosionsreaktion teilnimmt (sie ist nicht brennbar), wurde es bei der Dynamitproduktion durch besser geeignete Stoffe ersetzt, die aktiv an der Explosion teilnehmen können (z. B. Kollodiumwolle).
Durch die Zugabe von Kieselgur wird die Beständigkeit und Wetterfestigkeit des Asphalts erhöht, Autoreifen werden abriebfester und temperaturbeständiger.
Bei Farben und Lacken wird durch die Zugabe von Kieselgur verhindert, dass sich nach einiger Lagerzeit die Pigmente am Boden absetzen.
Zement, Mörtel und Beton wird durch die Zugabe von Kieselgur plastischer und die Verarbeitung wird erleichtert.
Bei Düngemitteln wird verhindert, dass die Düngekörner zusammenkleben.
In der Margarine- und Fettherstellung wird die Kieselgur als Träger für den Katalysator verwendet.
Bei Pferden kann Kieselgur helfen, das Scheuern an Schweif und Mähne im Sommer zu vermindern.
Auf Grund seiner porenreichen Struktur eignet sich Kieselgur hervorragend als Filtrationsmittel, um (Trink)Wasser zu entkeimen, Trüb- und Schwebstoffe zu entfernen und Bakterien zurück zu halten. Beispielsweise wird es in Brauereien zur Filtrierung von Bier verwendet.
Dissousgasflaschen zum in Aceton gelösten Speichern von Ethin, zum Beispiel die beim autogenen Schweißen verwendeten Acetylenflaschen, enthielten früher karzinogenen Asbest, heute jedoch Kieselgur als poröse Masse.
Literatur
- Karl-Heinz Grotjahn: Die Kieselgur – das weiße Gold der Heide. Was die Lüneburger Heide mit dem Nobelpreis zu tun hat. In: Heimatkalender 2003 für die Lüneburger Heide. Celle 2002, Seite 28–33.
- Ute Leimcke-Kuhlmann: Das Leben und Arbeiten in den Kieselgurwerken. In: Heimatkalender 2003 für die Lüneburger Heide. Celle 2002, Seite 34–35.
- H. Müller: Pollenanalytische Untersuchungen und Jahresschichtenzählungen an der holstein-zeitlichen Kieselgur von Munster-Breloh. In: Geologisches Jahrbuch Reihe A. 21, 1974, S. 107–140.
- H. Müller: Pollenanalytische Untersuchungen und Jahresschichtenzählungen an der eemzeitlichen Kieselgur von Bispingen/Luhe. In: Geologisches Jahrbuch Reihe A. 21, 1974, S. 149–169.
- Volker Probst: Traumland. Albert Königs Darstellungen der Kieselgurgruben bei Unterlüß und seine letzten Landschaftsmalereien. Albert-König-Museum, Unterlüss 1994/95 (Ausstellungskatalog)
Quellen
- ↑ Ulrich Lehmann: Paläontologisches Wörterbuch. 4. Auflage. Enke, Stuttgart 1996, ISBN 3-432-83574-4.
- ↑ Florian Klebs: Deutschland Wiege des Nobelpreis. In: Humboldt Kosmos. 21. Januar 2001.
- ↑ Heinrich Küsel: Der Speicher. 1930.
- ↑ Berkefeld Historie
- ↑ Ehemalige Kieselgurgrube bei Steinfurt
- ↑ Geschichtliches über den Kieselgurabbau in Klieken
Weblinks