Antimaterie

Antimaterie

Antimaterie ist die Sammelbezeichnung für Antiteilchen und alles, was aus ihnen aufgebaut ist, so wie die „normale“ Materie aus „normalen“ Teilchen besteht. Antimaterie kann die Form von Atomen und Molekülen haben, die gebundene Systeme aus Positronen, Antiprotonen und ggf. Antineutronen sind.

In der beobachtbaren Welt ist Antimaterie sehr kurzlebig, weil beim Aufeinandertreffen eines Teilchen-Antiteilchen-Paares sich beide gegenseitig unter Energiefreisetzung in einer Annihilations-Reaktion vernichten.

Einige leichte Antiteilchen sind in der Natur allgegenwärtig, aber Atome oder Moleküle aus Antimaterie kommen, soweit bekannt, nicht natürlich vor.

Antimaterie auf der Erde

Antiteilchen und auch Antimaterie-Atome lassen sich in Paarbildungsreaktionen mittels Teilchenbeschleunigern erzeugen. Mit wesentlich kleinerem Aufwand können Positronen durch Herstellung beta-plus-aktiver Radionuklide gewonnen werden. Diese Positronenstrahlung hat wichtige Anwendungen in der Medizin.

Die erste Antimaterie, genauer das erste Positron, wurde im Jahr 1932 in der kosmischen Strahlung nachgewiesen. Antimyonen werden von der kosmischen Strahlung erzeugt, wenn sie in die Erdatmosphäre eindringt.

Eine Arbeitsgruppe unter Walter Oelert vom Forschungszentrum Jülich wies 1995 als erste am Low Energy Antiproton Ring (LEAR) des CERN einige Antiwasserstoff-Atome nach, also gebundene Systeme aus einem Antiproton und einem Positron.[1] In den beiden folgenden Jahren wiederholten Forscher am Fermilab in den USA das Experiment.

Ende 2009 wurden vom Weltraumteleskop Fermi überraschenderweise bei Gewittern Positronen entdeckt; das Teleskop sollte eigentlich nur dazu dienen, nach Gammastrahlung zu suchen.[2]

2010 wurden am CERN im Projekt Alpha 38 Antiwasserstoff-Atome nachgewiesen, die für 172 Millisekunden in einer magnetischen Falle eingefangen waren. Für eine spektroskopische Untersuchung werden jedoch deutlich größere Mengen benötigt.[3][4]

Im April 2011 gelang es am CERN, 309 Antiwasserstoffatome bei einer Temperatur von etwa einem Kelvin fast 17 Minuten lang einzufangen, also 5800-mal so lang wie im November 2010.[5][6] Dies wird von den Forschern des CERN und Kommentatoren allgemein als bedeutender Durchbruch beurteilt, der neue Möglichkeiten eröffnet, die Eigenschaften von Antimaterie zu erforschen. Dabei geht es zum Beispiel um mögliche Verletzungen von Symmetrien in der Teilchenphysik. Dies betrifft die Frage, warum nach dem Urknall mehr Materie als Antimaterie entstand.

Der bislang schwerste beobachtete Antimaterie-Atomkern war das ebenfalls im April 2011 am Relativistic Heavy Ion Collider erzeugte Anti-4He.[7][8]

Spekulationen über energetische Nutzung

Die Vernichtung (Annihilation) setzt die bei der Paarbildung als Masse gespeicherte Energie wieder frei. Bei der Elektron-Positron-Annihilation tritt diese als elektromagnetische Strahlung auf, im Fall schwerer Teilchen (Proton-Antiproton) teilweise auch in Form anderer Teilchen mit hoher Bewegungsenergie. Dabei wird die gesamte Masse des Teilchen-Antiteilchen-Paares umgesetzt und nicht nur, wie bei Kernspaltung und Kernfusion, ein kleiner Bruchteil (siehe Massendefekt). Die Annihilation einer gegebenen Masse von 50 % Materie + 50 % Antimaterie würde also viel mehr Energie freisetzen als die Reaktion einer gleich großen Masse von Fusionsreaktor-Brennstoff. Beispielsweise würde die Annihilation eines Wasserstoffatoms mit einem Anti-Wasserstoffatom die Energie 1,88 GeV liefern; die Fusion eines Deuteriumkerns mit einem Tritiumkern liefert dagegen nur 17,6 MeV. Die Antimaterieannihilation setzt hier also etwa 100-mal so viel Energie frei wie die Kernfusion.

Wegen dieser hohen Speicherwirkung für Energie ist über Nutzungen von Antimaterie (in Form von Positronen) für Waffenzwecke nachgedacht worden.[9]

In der Raumfahrt wurde mehrfach über den möglichen Nutzen für Antriebssysteme diskutiert.[10][11] Wissenschaftler an der Pennsylvania State University untersuchten in den Projekten AIMStar und ICAN-II in den 1990er Jahren theoretische Konzepte.[12][13]

Bislang gibt es aber kein realistisches Konzept, wie genügende Mengen von Antimaterie hergestellt, gelagert und transportiert werden könnten.

Als eine Energiequelle wird künstlich erzeugte Antimaterie nie genutzt werden können: Für die Erzeugung wird immer mindestens so viel Energie benötigt, wie die Vernichtung wieder freisetzt. Aus technischen Gründen läge außerdem der Wirkungsgrad bei der Erzeugung unter 100 %.

Antimaterie im Universum

Die bisherigen Experimente und Theorien ergeben weitgehend identisches Verhalten von Materie und Antimaterie (siehe CP-Verletzung). Demnach sind nach dem heißen und dichten Anfangszustand des Universums (Urknall) Materie und Antimaterie in näherungsweise gleichen Mengen entstanden und kurz darauf wieder durch Annihilation „zerstrahlt“.

Andererseits zeigen aber alle bisherigen Beobachtungen im Kosmos nur die „normale“ Materie. Sie muss das Überbleibsel eines geringen Ungleichgewichts zu Beginn des Universums sein. Frühere Vermutungen, dass das Universum in einigen Bereichen mit Materie, in anderen mit Antimaterie gefüllt sei, gelten heute als unwahrscheinlich. Es wurde bislang keine Annihilationsstrahlung, die an den Grenzgebieten entstehen sollte, nachgewiesen. Auch die direkte Suche nach Anti-Helium-Atomen, die 1998 mit einem Alpha-Magnet-Spektrometer an Bord eines Space Shuttle erfolgte, zeigte in der kosmischen Höhenstrahlung keine Hinweise auf Antimaterie. Insgesamt wurden etwa 3 Millionen Heliumatome detektiert, darunter befand sich aber kein einziges Antiatom.[14]

Der Vergleich von Modellrechnungen im Rahmen der Urknalltheorie und astronomischen Messdaten (primordiale Nukleosynthese, WMAP) spricht dafür, dass das Verhältnis von Materie und Antimaterie anfangs fast 1 war. Ein winziges Ungleichgewicht – etwa 1 Teilchen Überschuss auf 1 Milliarde Teilchen-Antiteilchen-Paare – bewirkte, dass ein Rest an Materie übrig blieb, der in unserem heutigen Universum feststellbar ist. Dieses Ungleichgewicht von Materie und Antimaterie ist eine der Voraussetzungen für die Stabilität des Universums und somit auch für das Leben auf der Erde. Bei genauem Gleichgewicht wären Materie und Antimaterie im Verlauf der Abkühlung des Universums vollständig in Strahlung umgewandelt worden.

Der Grund für dieses Ungleichgewicht ist eines der großen Rätsel der Elementarteilchenphysik und Kosmologie; es wird vermutet, dass erst vereinheitlichende Theorien (beispielsweise Stringtheorie, M-Theorie, Supersymmetrie) diese ungleiche Verteilung zufriedenstellend erklären werden. Eine der Voraussetzungen für ein Übergewicht von Materie ist die CP-Verletzung (siehe Baryogenese). Diese wurde zuerst bei Kaonen in den 1960er Jahren entdeckt (Cronin, Fitch). In den 1990er Jahren wurden am SLAC in den USA 200 Millionen B-Meson-Anti-B-Meson-Paare erzeugt und untersucht, wie diese wieder zerfallen. Bei der Auswertung wurde festgestellt, dass die B-Mesonen etwa zweimal seltener in ein Pion und ein Kaon zerfallen als ihre Antiteilchen. Beim vorher untersuchten Kaonensystem lag der Unterschied bei 4 zu einer Million.

Antimaterie in der Science-Fiction

Antimaterie kommt in vielen Romanen und Filmen vor, wo ihre physikalischen Eigenschaften von den wirklichen abweichen können. In der Welt von Star Trek dient eine Materie-Antimaterie-Reaktion als Energiequelle für den fiktiven Warp-Antrieb zur Beschleunigung auf Überlichtgeschwindigkeit und auch als Waffe. In der Heftromanserie Perry Rhodan wurde Antimaterie benutzt, um Gravitations–Schockwellen abzustrahlen und so eine Nachricht zu übermitteln. Im Roman Illuminati von Dan Brown haben Wissenschaftler des CERN sichtbare Mengen der Substanz hergestellt.

Literatur

  • Dieter Grzonka, Walter Oelert und Jochen Walz: Experimente mit der „Antiwelt“, Physik Journal 5 Nr. 3 (März 2006) 37, (Online)
  • Dieter B. Herrmann: Antimaterie. Auf der Suche nach der Gegenwelt, 2. Auflage, München:Beck (2004), ISBN 3-406-44504-7
  • Alban Kellerbauer: Antimaterie – Spiegelbild oder Zerrbild, Physik in Unserer Zeit 38 (Juli 2007) 168, doi:10.1002/piuz.200601134
    Direkter Download vom Autor: Artikel, zus. Kapitel.
  • Hannes Alfvén: Kosmologie und Antimaterie. Umschau-Verl., Frankfurt am Main 1969
  • Gordon Fraser: Antimatter – the ultimate mirror. Cambridge Univ. Press, Cambridge 2002, ISBN 0-521-89309-7
  • Helen R.Quinn, Yossi Nir: The mystery of the missing antimatter. Princeton Univ. Pr., Princeton 2008, ISBN 978-0-691-13309-6

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Antimaterie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Beschreibung des Experiments
  2. NASA-Meldung (engl.), zuletzt abgerufen am 11. Januar 2011
  3. G.B. Andresen et al.: Trapped antihydrogen, Nature, 17. November 2010, doi:10.1038/nature09610 (engl.)
  4. Speicher für Antimaterie – Artikel bei heise online, vom 18. November 2010
  5. CERN, Makoto C. Fujiwara et al.: Cornell University Library: Confinement of antihydrogen for 1000 seconds. Abgerufen am 4. Mai 2011 (HTML, englisch).
  6. Markus Becker: Physik-Rekord – Forscher fangen Antimaterie minutenlang ein. Abgerufen am 4. Mai 2011 (HTML, deutsch).
  7. Nina Weber: Forscher erzeugen Rekord-Antimaterie. Teilchenphysik-Durchbruch. Spiegel Online, 24. April 2011, abgerufen am 25. April 2011.
  8. Observation of the antimatter helium-4 nucleus. In: nature. 24. April 2011, abgerufen am 25. April 2011 (english).
  9. San Francisco Chronicle (engl.)
  10. Reaching for the Stars; Far Out Space Propulsion Conference Blasts Off science.nasa.gov, abgerufen am 25. Mai 2012
  11. antimatter propulsion daviddarling.info
  12. Antimatter propulsion at Penn State University engr.psu.edu; AIMStar, ICAN-II, en.wp
  13. K.F. Long: Deep Space Propulsion: A Roadmap to Interstellar Flight. Springer, 2011, S.229ff.; @ google books abgerufen am 25. Mai 2012
  14. Publikationen der AMS-Kollaboration (engl.)

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