Störungstheorie (Quantenmechanik)
Die Störungstheorie ist eine wichtige Methode der theoretischen Physik, die Auswirkungen einer zeitunabhängigen Störung auf ein analytisch lösbares System untersucht. Vor der Erfindung des Computers war es nur durch solche Methoden möglich, Näherungslösungen für analytisch nicht geschlossen lösbare Probleme zu finden. Entwickelt wurde sie zunächst vor allem im Rahmen der Himmelsmechanik, bei der die Abweichungen der Planetenbahnen von der exakten Lösung des Zweikörperproblems, also den Ellipsen, durch Wechselwirkung mit anderen Himmelskörpern untersucht wurden.
Wie auch in der klassischen Mechanik wird in der Quantenmechanik die Störungstheorie dazu verwendet, Probleme zu lösen, bei denen mehr als zwei Körper beteiligt sind. Beispiele hierfür sind das Heliumatom und andere einfache Mehrkörperprobleme. Allerdings dienen die hier vorgestellten Methoden nicht dazu, "echte" Mehrteilchenprobleme (im Sinne einer großen Teilchenzahl) zu lösen, dazu verwendet man Verfahren wie die Hartree-Fock-Methode oder die Dichtefunktionaltheorie. Außerdem können einfache Störungen durch zeitabhängige Felder beschrieben werden, deren korrekte Beschreibung jedoch erst durch eine Quantenfeldtheorie erfolgt.
Zeitunabhängige Störungstheorie nach Schrödinger
Die stationäre (oder zeitunabhängige) Störungstheorie kann bei Systemen angewendet werden, bei denen der Hamiltonoperator aus einem diagonalisierbaren Anteil und genau einer Störung besteht, die beide zeitunabhängig sind:
Dabei soll der reelle Parameter
Im Folgenden seien zum ungestörten Hamiltonoperator
Man setzt für die gestörten Eigenwerte und -zustände eine Potenzreihe im Parameter
bzw. durch Abbruch der Reihe eine Approximation der entsprechenden Ordnung an diese.
Einsetzen der Potenzreihe liefert
Zusammenfassen von Gliedern gleicher Potenz in
usw.
Diese Gleichungen können iterativ nach
Aus der zweiten Gleichung ist erkennbar, dass eindeutige Lösungen für
Da der ungestörte Zustand
und daraus (
Dies bedeutet, dass alle Korrekturen aus dem orthogonalen Komplement zu
und für die Korrektur der Energie in zweiter Ordnung
Herleitung der Korrekturen erster und zweiter Ordnung
Die Zustände
Energiekorrektur erster Ordnung
Die Gleichung erster Ordnung lautet:
Multipliziert man von links
erhält man die Energiekorrektur erster Ordnung:
Zustandskorrektur erster Ordnung
Die Gleichung erster Ordnung mit entwickeltem
Nun multipliziert man von links
Das ergibt die Entwicklungskoeffizienten
und eingesetzt in obige Entwicklung nach den Eigenzuständen des ungestörten Problems erhält man die Zustandskorrektur erster Ordnung:
Energiekorrektur zweiter Ordnung
Die Gleichung zweiter Ordnung ist
Multipliziert man von links
So ergibt sich die Energiekorrektur zweiter Ordnung, wobei man
Zustandskorrektur zweiter Ordnung
Die Gleichung zweiter Ordnung mit entwickeltem
Nun multipliziert man von links mit
So erhält man die Entwicklungskoeffizienten zweiter Ordnung,
Mit
Die Zustandskorrektur zweiter Ordnung, entwickelt nach den Eigenzuständen des ungestörten Problems, ist somit:
Bemerkungen, insbesondere zur Konvergenz
Die Energiekorrektur
Zur Berechnung muss allerdings die Zustandskorrektur
Eine notwendige Bedingung für die Konvergenz einer störungstheoretischen Entwicklung ist, dass die Beiträge der Wellenfunktionen höherer Ordnung klein gegenüber denen niedrigerer Ordnung sind. Terme höherer Ordnung unterscheiden sich um Faktoren der Größenordnung
für
Im Allgemeinen ist diese Bedingung jedoch nicht hinreichend. Allerdings ist es bei divergierenden Reihen möglich, dass die Näherungen niedriger Ordnung die exakte Lösung gut approximieren (asymptotische Konvergenz).
An dem Ergebnis für
da stets
Zur Konvergenz ist noch zu bemerken, dass man mit der Frage nach ihrer Gültigkeit auf sehr tiefliegende Probleme geführt wird. Selbst ein scheinbar so einfaches Beispiel wie ein „gestörter harmonischer Oszillator“ mit dem Hamilton-Operator
An diesem nur scheinbar einfachen Beispiel, das in vielen Veranstaltungen als Standardaufgabe für den Formalismus der Störungsrechnung dient, sieht man, wie tiefliegend die Probleme eigentlich sind, und dass man sich von Anfang an damit begnügen sollte, dass die Störungsreihe in allen Fällen, selbst bei Nichtkonvergenz, als „asymptotische Näherung“ einen Sinn ergibt, in den meisten Fällen „nur“ als asymptotische Näherung. Man sollte aber auf jeden Fall erkennen, dass sie auch unter diesen Umständen wertvoll bleibt. In konkreten Fällen ist es darüber hinaus möglich, Gültigkeitsbereiche für die Näherungen anzugeben.
Zeitunabhängige Störungstheorie mit Entartung
Die
Es liege jetzt ohne Störung Entartung vor (z. B.
Zeitabhängige Störungstheorie
Zeitabhängige Störungstheorie findet ihre Anwendung zur Beschreibung von einfachen Problemen, wie der inkohärenten Bestrahlung von Atomen durch Photonen oder bietet ein Verständnis für induzierte Absorption bzw. Emission von Photonen. Zur vollständigen Beschreibung sind jedoch die weitaus komplizierteren Quantenfeldtheorien nötig. Außerdem lassen sich wichtige Gesetze wie Fermis Goldene Regel ableiten.
In der Quantenmechanik wird die Zeitentwicklung eines Zustandes durch die Schrödingergleichung bestimmt.
Auch jetzt können die Systeme scheinbar separat behandelt werden:
Die Gleichung wird formal durch einen Zeitentwicklungsoperator
Die allgemeine Lösung zu einer Anfangsbedingung wie
Dyson-Reihe des Zeitentwicklungsoperators
Aus der Schrödingergleichung für den Zeitentwicklungsoperator lässt sich durch einfache Integration eine entsprechende Integralgleichung ableiten
Durch Iteration, indem immer wieder die Gleichung in sich selbst eingesetzt wird, entsteht die sogenannte Dyson-Reihe
Schließlich kann man diesen Ausdruck noch weiter formalisieren durch die Einführung eines Zeitordnungsoperators
Andernfalls werden die Argumente entsprechend vertauscht. Durch Anwendung auf die Integranden in der Dyson-Reihe kann nun bei jeder Integration bis
Damit ist das Zeitentwicklungsproblem für jeden Hamiltonoperator gelöst.
Störungen im Wechselwirkungsbild
Betrachtet man einen allgemeinen Hamiltonoperator
Hinweis: Man hätte auch die suggestivere Bezeichnung V1 wählen können.
Bekanntermaßen ist
Der Zeitentwicklungsoperator
Die Zeitentwicklung des gesamten Hamiltonoperators ist damit gegeben durch
Hinweis: Dies erfüllt die entsprechende Differentialgleichung
Betrachtet man nun die Übergangsraten
Bemerkenswerterweise geht hier nur das Betragsquadrat des Matrixelements ein. Nichtdiagonale Matrixelemente treten nicht auf (was dagegen bei kohärenten Prozessen der Fall wäre, z. B. beim Laser), weil die freie Zeitentwicklung der Eigenzustände lediglich eine komplexe Zahl mit Betrag 1 ist. Man muss dabei nur berücksichtigen, dass die Wellenfunktionen im Schrödingerbild aus denen im Wechselwirkungsbild durch Multiplikation mit e-Funktionen der Art exp(-iEft) hervorgehen.
Übergangsrate in erster Ordnung ("Fermis Goldene Regel")
Die Übergangsrate ergibt sich dann nach kurzer Rechnung zu folgendem Ausdruck, wobei
(Die Exponentialfaktoren entstehen durch Einsetzen der U-Operatoren).
Nimmt man an, dass die Störung nur von zeitlich begrenzter Dauer ist, dann kann man den Startpunkt unendlich weit zurückschieben und den Zielpunkt unendlich weit in die Zukunft legen:
Dadurch entsteht die Fouriertransformierte des Betragsquadrates des Skalarproduktes. Das ergibt das Betragsquadrat der Fouriertransformierten, die meistens geschrieben wird als
Zur Sicherheit überprüft man die Dimensionen:
Man kann hier bei gegebenem i über die Endzustände f integrieren, f → K(f) ; oder umgekehrt, i → K(i) ; oder bei festem i und f über die Frequenz ω eines zugeschalteten Feldes („induzierte Absorption“) und erhält dann (z. B. für ein Kontinuum von Endzuständen) Formeln der Art
wobei an diese Stelle die richtigen Faktoren von wieder eingeführt wurden.
Diese Formel, oder die vorangegangene Beziehung, ist auch als Fermis Goldene Regel bekannt.
Hierbei ist ρf die Energiedichte der Endzustände (physikalische Dimension: 1/E) und der Querstrich auf der rechten Seite über dem Matrixelement bezeichnet eine Mittelung. Durch die Integration ist jetzt die Deltafunktion verschwunden. In der Dimensionsanalyse ersetzt die Energiedichte ρf (Dimension: 1/E) eine Summation (bzw. Integration) über die Deltafunktion.
Bemerkung ("Kohärenz" ↔ "Inkohärenz")
Die Mittelung in diesem Falle ist „quadratisch“, also als inkohärent zu bezeichnen (Nichtdiagonalelemente gehen nicht ein). An dieser Stelle, d.h. durch diese Näherung, die ungültig wird, wenn man wie beim Laser kohärent mitteln muss, befindet sich die „Bruchstelle“ zwischen der (reversiblen) Quantenmechanik und der (in wesentlichen Teilen irreversiblen) Statistischen Physik.
Elementare Darstellung
Im folgenden wird eine wenig formale, fast „elementar“ zu nennende Darstellung gegeben, die auf ein bekanntes Buch von Siegfried Flügge zurückgeht:[2]
Es sei V(t)=Vω e-iω t+V-ω e+iω t oder gleich einer Summe bzw. einem Integral solcher Terme mit verschiedenen Kreisfreqenzen ω, wobei die Operatoren wegen der Hermitizität von V(t) stets V-ω
Es wird nun zunächst der Operator H0 diagonalisiert: Der Einfachheit wird ein vollständig diskretes Eigenfunktionssystem ψn mit den nicht entarteten zugehörigen Eigenwerten En (=
Man startet zur Zeit t0 mit einem Zustand c0=1, cn=0 sonst. Die Übergangsrate ist jetzt einfach der Limes |cj(t)|2/(t-t0) , genommen im doppelten Limes t → ∞, t0 → -∞, und man erhält die angegebenen Ergebnisse.[3]
Geschichte
Die Störungstheorie wurde erstmals bei astronomischen Problemen verwendet (siehe Störungstheorie (Klassische Physik)), ihr Haupteinsatzgebiet ist heute die Theoretische Physik, speziell die Quantentheorie. Daneben wird die Störungstheorie in neuerer Zeit auch in den Wirtschaftswissenschaften zur Beschreibung mikroökonomischer Systeme eingesetzt, wobei die Entsprechung zu
Anwendung
Literatur
- Klassische Literatur
- Leonhard Eulers Werke zur Störungstheorie (Bände 26 und 27 der Series secunda)
- Martin Brendels Theorie der kleinen Planeten. Teil I-IV (veröffentlicht 1898-1911)
- Aktuelle Literatur
- Tosio Kato: Perturbation theory for linear operators. Springer, Berlin 1995, ISBN 3-540-58661-X.
Weblinks
- Herleitung: Stationäre entartete Störungstheorie (PDF; 83 kB)
Einzelnachweise und Fußnoten
- ↑ Die Bezeichnung „Übergangswahrscheinlichkeit“ für die Übergangsrate kann irreführend sein, wenn man nicht ergänzend sagt: "pro Zeiteinheit".
- ↑ S. Flügge, Rechenmethoden der Quantentheorie, Berlin, Springer 1999, ISBN 978-3-540-65599-2
- ↑ Bemerkung: Den Übergang zum üblichen Formalismus erhält man indem man den von den cn(t) erzeugten Hilbert-Vektor als Zustand im Wechselwirkungsbild interpretiert. Dieser Zustand genügt dann in Matrixdarstellung einer Schrödingergleichung, die nicht mehr das volle H enthält, sondern im Wesentlichen nur noch die Störung, präzise nur H1(t):=U0-1V(t)U0.