Lithiumtherapie

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Bei der Lithiumtherapie wird Lithium in Form einiger seiner Salze bei bipolarer Störung, Manie oder Depressionen einerseits als Phasenprophylaktikum, andererseits auch zur Steigerung der Wirksamkeit in Verbindung mit Antidepressiva eingesetzt. Eine weitere Anwendung ist die vorbeugende Behandlung bei Cluster-Kopfschmerz.

Allgemeines

Lithium wird bereits seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als Medikament in der Psychiatrie eingesetzt und ist deshalb in der Anwendung (Nebenwirkungen, Verträglichkeiten, Wechselwirkungen) sehr gut erforscht.

Bei affektiven Störungen wie der Bipolaren Erkrankung oder Depressionen ist die Lithiumtherapie die einzige medikamentöse Behandlung, für die eine suizidverhütende Wirkung eindeutig nachgewiesen ist.[1]

Lithiumsalze machen nicht körperlich abhängig und sind bei richtiger Dosierung indikationsbezogen ausreichend verträglich (s.a. Abschnitt Nebenwirkungen). Um die richtige Dosis zu finden, ist es erforderlich, regelmäßig die Lithiumkonzentration im Blut zu kontrollieren. Die therapeutische Breite von Lithium ist gering, das heißt: Eine giftige Menge ist nur wenig höher als die, bei der die gewünschte Wirkung eintritt, weshalb eine Selbstbehandlung sehr gefährlich ist.

Geschichte

Die antimanische Wirkung von Lithiumsalzen wurde von dem australischen Psychiater John F. Cade entdeckt, der Lithium erstmals 1949 als psychiatrisches Medikament beschrieb. Die Entdeckung des Effekts beruhte eigentlich auf einer falschen Annahme: Cade hatte mit Harnstoffverbindungen experimentiert, da er eine Vergiftung des Organismus mit Stoffwechselendprodukten wie Harnstoff als Auslöser psychischer Störungen ansah.[2] In einem psychiatrischen Handbuch heißt es:

„Während der Durchführung eines Tierexperiments hatte Cade eher zufällig entdeckt, daß Lithium die Tiere lethargisch machte, woraufhin er dieses Mittel einigen seiner aufgeregten Patienten verabreichte. [... Weiter heißt es, dies sei ein] zentraler Moment in der Geschichte der Psychopharmakologie [...gewesen.]“

Kaplan & Sadock [3]

Ab 1967 propagierte der dänische Psychiater Mogens Schou Lithium als Phasenprophylaxe bei affektiven Psychosen. John F. Cade war bis zu seinem Tod maßgeblich an der Weiterentwicklung der Lithiumtherapie beteiligt.[4]

Bis 1950 war Lithiumcitrat ein Inhaltsstoff des Erfrischungsgetränkes 7 Up, bevor es durch Natriumcitrat und später durch Kaliumcitrat ersetzt wurde.

Pharmazeutische Informationen

Eine Vielzahl verschiedener Lithiumsalze lässt sich arzneilich anwenden, beispielsweise Lithiumcarbonat, Lithiumacetat, Lithiumsulfat, Lithiumcitrat, Lithiumorotat.

Pharmakologie

Indikationen

Es gibt drei Indikationsgebiete für Lithium:

  1. wiederkehrenden Phasen von Depression (unipolar rezidivierende Depression) oder von Depression und Manie (manisch-depressive oder bipolare affektive Krankheit): Bei diesen Patienten kann eine regelmäßige Lithiumeinnahme dem erneuten Auftreten von Krankheitsphasen vorbeugen. Diese vorbeugende Behandlung (Stimmungsstabilisation) ist heute das Hauptanwendungsgebiet von Lithiumsalzen in der Medizin.
    Zur Behandlung einer Depression können Lithiumsalze zu einem Antidepressivum gegeben werden, wenn das Antidepressivum allein keine ausreichende Wirkung gegen die Depression entfaltet (die so genannte Lithiumaugmentation, von lat. augmentare „verstärken“): Eine Manie kann durch Lithiumgabe auch akut gebessert werden.
  2. therapieresistente Schizophrenie
    Dies ist die zweite noch gebräuchliche Indikation. Sie wird in Kombination mit Neuroleptika angewendet.
  3. Mittel der zweiten Wahl zur vorbeugenden Behandlung bei Cluster-Kopfschmerz[5]

Wirkmechanismus

Die Wirkungsweise von Lithium ist weitgehend unbekannt, da es auf zahllose Prozesse im menschlichen Körper einwirkt. So wird vermutet, dass Lithium die Wahrscheinlichkeit einer weiteren affektiven Episode vermindert, indem es bei manischen Episoden einen Noradrenalinüberschuss senkt und bei depressiven Episoden die Serotoninproduktion aktiviert.

Gegenanzeigen

Absolute Kontraindikationen sind

  • ausgeprägte Hyponatriämie,
  • schwere Niereninsuffizienz und akutes Nierenversagen, sowie
  • schwere Herzinsuffizienz und akuter Herzinfarkt.

Relative Kontraindikationen sind Morbus Addison sowie – nach neuerer Bewertung – eine Schwangerschaft (siehe Lithiumtherapie und Schwangerschaft).

Pharmakokinetik, Metabolisierung

Die therapeutisch eingesetzten Lithiumsalze dissoziieren nach oraler Einnahme mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die Lithium-Ionen (Li+) werden gut resorbiert; ihre Permeationsfähigkeit entspricht der von Natrium-Ionen. Im Vergleich zu Na+-Ionen weisen die Li+-Ionen jedoch eine geringere Affinität zu den Ionenpumpen auf und können schlechter aktiv aus den Zellen heraus transportiert werden. Sie reichern sich daher intrazellulär an, was vermutlich zu der geringen therapeutischen Breite von Lithium beiträgt.

Über 95 % der Lithium-Ionen einer Dosis werden mit dem Urin ausgeschieden. Die Ausscheidungsrate hängt dabei direkt von der Natrium-Konzentration im Harn ab, da Lithium und Natrium um die tubuläre Rückresorption konkurrieren. Viel Natrium im Harn (z.B. salzreiche Kost, Hypernatriämie) führt zu verminderter Rückresorption des Lithiums, also einer vermehrten Ausscheidung. Umgekehrt erhöht die Ausschaltung der Natrium-Rückresorption (z.B. durch Schleifendiuretika) die Lithium-Rückresorption, und damit die wirksame Konzentration im Körper.

Die Plasmahalbwertszeit beträgt im Mittel 24 Stunden. Sie wird durch die Na+-Zufuhr und generell durch die Nierenfunktion beeinflusst.

In der Schwangerschaft steigt die renale Ausscheidung von Lithium um 50–100 % an. Da es sich im menschlichen Organismus chemisch ähnlich verhält wie das in allen Zellen und Körperflüssigkeiten anzutreffende Na+, ist Lithium gut plazentagängig und erreicht im Fetus in etwa dieselbe Konzentration wie im mütterlichen Serum.

Erfolgsaussichten

In einer Metaanalyse an der LMU München wurden 2004 eine Reihe von Einflussfaktoren auf die Wirksamkeit der Lithiumprophylaxe bei bipolar affektiven Störungen untersucht. Dabei wurden 21 wirksame Faktoren ermittelt. Daraus wurde als prognostisches Mittel die Lithium-Response-Skala (LRS) entwickelt. Folgende Faktoren erwiesen sich dabei als protektiv, d.h. bei Vorliegen ergibt sich eine bessere Prognose zur Wirksamkeit der Lithiumtherapie, bzw. als Risiko, d.h. bei Vorliegen ergibt sich eine schlechtere Prognose:[6]

Bereich Protektive Faktoren (+) Risikofaktoren (–)
Krankheitsverlauf Verlaufsmuster MDI (Manie-Depression-Intermission), isolierte Krankheitsepisoden Verlaufsmuster DMI (Depression-Manie-Intermission), Verlaufsmuster CC (zyklisch), hohe Phasenfrequenz, kurze Länge des ersten freien Intervalls
Alter Höheres Alter bei Ersterkrankung
Status und Umfeld Hohe soziale Schicht und soziale Unterstützung durch Umfeld Arbeitslosigkeit, Stress
Therapie Compliance Lange Krankheitsdauer bei Therapiebeginn
Persönlichkeit Dominanz Hoher Neurotizismus
Komorbidität „High expressed emotions“, Persönlichkeitsstörung

Lithiumtherapie und Schwangerschaft

Nach Berichten über Fehlbildungen bei Neugeborenen nach Lithiumbehandlung der Mutter wurden die Lithiumsalze etwa ab 1970 als gefährliche Teratogene betrachtet. Speziell die bei Kindern nicht Lithium-behandelter Mütter sehr seltene Ebstein-Anomalie und andere angeborene Herzfehler traten vor allem nach Li+-Exposition in der Frühschwangerschaft gehäuft auf und führten zu der Empfehlung, während einer Schwangerschaft keinesfalls Lithium zu verabreichen. In Dänemark wurde 1968 zur Feststellung des Risikos ein spezielles „Lithium-Baby-Register“ eingerichtet.

Nach neueren Erhebungen dürften allerdings die teratogenen Effekte von Lithium seinerzeit überschätzt worden sein, zum Beispiel durch zu niedrig angesetzte Fehlbildungsraten in der übrigen Bevölkerung. Das relative Risiko für Fehlbildungen steigt zwar unter Lithiumtherapie etwa um den Faktor 5–10. Da jedoch akute manische Phasen oder Suizidalität bei Depressionen für das ungeborene Kind lebensbedrohlich sein können, gelten nunmehr folgende Empfehlungen für die Lithiumtherapie in der Schwangerschaft: [7]

  • Wenn die Lithiumtherapie zwingend erforderlich ist, sollen gleich bleibend niedrige Serumkonzentrationen von Li+ angestrebt werden – insbesondere im 1. Trimenon;
    • die Tagesdosis sollte auf mehrere Einzelgaben verteilt werden,
    • eine salzarme Diät ist zu vermeiden.
  • In der Woche vor der Geburt sollte – falls möglich – die Dosis um 30–50 % reduziert werden, da unter der Geburt die Nieren-Clearance sinkt und aufgrund der geringen therapeutischen Breite Vergiftungssymptome sowohl beim Kind als auch bei der Mutter auftreten können.
  • Sofort nach der Entbindung ist das ursprüngliche Therapieregime wieder aufzunehmen, das vor der Schwangerschaft bestand.
  • Nach Li+-Exposition im 1. Trimenon wird eine Ultraschallfeindiagnostik oder eine Echokardiographie beim Fetus empfohlen.

In den ersten beiden Lebenstagen ist das Neugeborene engmaschig zu überwachen, insbesondere im Hinblick auf toxische Symptome.

Nebenwirkungen

Typische Nebenwirkungen sind Gewichtszunahme, Kreislaufstörungen, Zittern (Tremor, besonders in den Händen), Übelkeit, Erbrechen, Veränderungen des Blutbilds (Leukozytose), Müdigkeit, verstärkter Durst und verstärktes Wasserlassen, Durchfall und Unterfunktion der Schilddrüse. Der therapeutische Serumspiegel liegt je nach Indikation zwischen 0,5 und 1,0 mmol/l, schon ab 1,5 mmol/l kann es zu Schläfrigkeit, in höheren Dosen zu Krämpfen und Koma kommen. [8] Wegen der geringen therapeutischen Breite des Lithiums werden regelmäßige Kontrollen der Serumspiegel z. B. mit Hilfe der Flammenphotometrie empfohlen, um unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu vermeiden. Auch bei korrekter Dosierung können unter Langzeit-Behandlung mit Lithium Wasser- und Natrium-Verluste (Diabetes insipidus), Übersäuerung des Blutes (Azidose) und eine Lithium-Nephropathie mit Einschränkung der Nierenfunktion auftreten.[9]

Wechselwirkungen

Der Li+-Plasmaspiegel und damit die Lithiumwirkung werden von allen Substanzen mit Wirkung auf die Na+-Ausscheidung beeinflusst (siehe Pharmakokinetik); dazu gehören in erster Linie Diuretika mit Na+-Effekt (Saluretika). NSAR wie Diclofenac oder Ibuprofen sowie ACE-Hemmer senken ebenfalls die Li+-Clearance; Acetylsalicylsäure (ASS) interagiert jedoch nicht mit dem Lithiumspiegel.

Absetzerscheinungen

Es wird ein langsames Ausschleichen aus der Therapie empfohlen.

Bei zu raschem Absetzen kann es zu Reizbarkeit, Ängstlichkeit, labiler Gemütslage und innerer Unruhe kommen. Bei bipolaren Erkrankungen kann das abrupte Absetzen von Lithium zum Ausbruch einer manischen Phase führen.

Forschung

Wissenschaftler der Medizinischen Universität Wien konnten 2011 belegen, dass im Trinkwasser natürlich vorkommendes Lithium negativ mit der regionalen Suizidrate korreliert. Die Autoren distanzierten sich jedoch von der Idee, Lithium dem Trinkwasser künstlich beizumengen, da nur unzureichendes Wissen über Wirkmechanismus und die Nebenwirkungen einer solchen Maßnahme vorhanden ist.[10]

Handelsnamen

Hypnorex (D), Lithiophor (D), Neurolepsin (A), Quilonum, Quilonum retard (D), Quilonorm (A, D)[11][12]

Musik

1991 veröffentlichte die US-amerikanische Grunge-Band Nirvana auf ihrem Album Nevermind den Song Lithium.

Der Musiker Sting, der sich in einem Interview als manisch-depressiv bezeichnete, beschreibt im Lied Lithium Sunset (Album: Mercury Falling) die Wirkung der Lithiumtherapie.

Die Gruppe Evanescence veröffentlichten 2006 auf dem Album The Open Door ein Lied namens Lithium (keine Cover-Version des Titels von Nirvana), in dem die Verwendung als Metapher für Gefühllosigkeit und Verklemmtheit benutzt wird.

Literatur

  • Bruno Müller-Oerlinghausen (Hrsg.): Die Lithiumtherapie : Nutzen, Risiken, Alternativen, 2. Auflage. Springer, Berlin 1997, ISBN 3-540-62961-0. (Erschien erstmals 1986, gilt als deutschsprachiges Standardwerk zum Thema.)
  • Mogens Schou: Lithiumtherapie affektiver Störungen. Praktische Informationen für Ärzte, Patienten und Angehörige, 6. überarbeitete Auflage. Thieme, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-13-593306-1. (Erschien erstmals 1980 unter dem Titel Lithium treatment of manic-depressive illness.)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Suicide Prevention Strategies - A Systematic Review. JAMA 2005;294:2064-2074. PMID 16249421
  2. Garry Walter: John Cade and Lithium. Psychiatric Services 1999;50:969. PMID 10402625
  3. Harold I. Kaplan, M.D. & Benjamin J. Sadock, M.D., Clinical Psychiatry, Williams & Wilkins, 1988, S. 342
  4. John F. Cade: Lithium - when, why and how? Med J Aust. 1975;1:684-6. PMID 1152735
  5. Leitlinie Cluster-Kopfschmerz und trigeminoautonome Kopfschmerzen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. In: AWMF online (Stand 10/2008)
  6. Nikolaus Kleindienst: Zur Prädiktion des Erfolgs einer Lithiumprophylaxe bei bipolar affektiven Störungen. Ludwig-Maximilians-Universität, München 2004, URN: nbn:de:bvb:19-23206.
  7. Schaefer/Spielmann, Arzneiverordnung in Schwangerschaft und Stillzeit, 6. Aufl., München 2001; S. 341f.
  8. http://www.laborarztpraxis-van-de-loo.de/upload/237253_Lithium.pdf (Zugriff am 22. Januar 2010)
  9. Jean-Pierre Grünfeld, Bernard C Rossier: Lithium nephrotoxicity revisited. In: Nature Reviews Nephrology. 5, Nr. 5, 2009, S. 270-276. doi:10.1038/nrneph.2009.43. Abgerufen am 26. September 2010. Volltext
  10. Meldung der medizinischen Universität Wien vom 1. Juni 2011
  11. ABDA-Datenbank (Stand: 1. September 2008) des DIMDI
  12. Austria-Codex (Stand: 1. September 2008)
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