Nachzerfallswärme
Mit Nachzerfallswärme (englisch decay heat) bezeichnet man in der Kernreaktor-Technik die Zerfallswärmeleistung, die nach dem Beenden der Kettenreaktion in den Brennelementen noch neu entsteht. Da der Neutronenfluss z. B. durch Einfahren der Steuerstäbe nahezu zum Erliegen gekommen ist, finden nach der Abschaltung kaum neue Spaltungsreaktionen statt. Die Nachzerfallswärme kommt vielmehr dadurch zustande, dass die vorhandenen, kurzlebigen Spaltprodukte radioaktiv zerfallen.
Die Wärmemenge und der Dampfdruck reichen nach dem Abschalten im Allgemeinen nicht mehr für den Betrieb der Dampfturbine aus. Die Nachzerfallswärme muss daher komplett über den normalen oder einen speziellen Kühlkreislauf abgeführt werden. Diese Wärmeleistung beträgt unmittelbar nach dem Abschalten zwischen 5 % und 10 % der vorherigen thermischen Leistung des Reaktors; abhängig vom Reaktortyp, der Betriebsdauer und dem eingesetzten Kernbrennstoff. In einem Großreaktor von beispielsweise 1.300 Megawatt elektrischer Leistung, d. h. rund 4.000 MW thermischer Leistung,[Anm. 1] entstehen somit direkt nach der Abschaltung noch rund 200 bis 400 MW Wärmeleistung, die danach relativ schnell abfällt.
Durch die Nachzerfallswärme können bei vollständigem Ausfall der Kühlung Schäden am Reaktor bis hin zur Kernschmelze eintreten. Deshalb benötigen auch Leichtwasserreaktoren geeignete Notkühlsysteme.
Umgangssprachlich wird auch der Begriff Restwärme gebraucht. Dieser ist aber irreführend, da die Nachzerfallswärme nicht die gespeicherte Wärmemenge des Reaktorkerns (Wärmekapazität) beim Abschalten beschreibt, sondern die Leistungserzeugung der andauernden radioaktiven Zerfälle.
Berechnung
Für jedes einzelne Radionuklid klingt die Nachzerfallswärmeleistung entsprechend einer Exponentialfunktion ab. Bei dem Spaltproduktgemisch in einem Reaktor überlagern sich die Exponentialfunktionen zu einem Verlauf, der für praktische Zwecke nach Näherungsformeln berechnet werden kann. Die Berechnungsvorschriften sind in den Normen DIN 25463-1 und DIN 25463-2 festgelegt.
Eine Näherungsformel für die Abnahme der Wärmemenge wurde 1946 von Way und Wigner angegeben.[3] Wird ein Reaktor für die Dauer
Dabei sind T0 und t in Sekunden einzusetzen. Die Formel gilt (bei einer hinreichend langen Betriebsdauer T0) für den Zeitraum etwa 10 Sekunden bis etwa 100 Tage nach der Abschaltung. Aus dem Artikel von Way & Wigner (1946 bzw. 1948) ist ersichtlich, wie die mittlere Nachzerfallsleistung der Produkte eines Spaltereignisses mit Hilfe der Bethe-Weizsäcker-Formel (Liquid-Drop-Modell zur Berechnung der Energiedifferenzen der Zerfallsprodukte in der radioaktiven Zerfallskette) und der Sargent-Regel (mittlere Lebensdauer eines
Unter der Annahme, dass
Da die Anzahl der gespaltenen Kerne pro Sekunde,
wobei
Die Herleitung von Way und Wigner beruht auf sehr groben Modellannahmen, die im Einzelnen durchaus nicht zutreffen müssen. Daher gehen sie selbst von einem Fehler im Bereich von 15 % bis 20 % aus. Beispielsweise folgen nicht alle
Schließlich wurde bei der obigen Integration völlig außer Acht gelassen, dass bestimmte Nuklide durch Neutroneneinfang aus der Zerfallskette teilweise entfallen, d.h. inaktiv werden können oder ihr weiterer Zerfalls sich beschleunigt oder verlangsamt (siehe Reaktorgift). Insofern ist obige Formel der Gesamtnachzerfallswärme sicher nicht sehr präzise. Genauere Nachzerfallsleistungen tragen der exponentiellen Abhängigkeit des radioaktiven Zerfalls Rechnung, enthalten also eine Summe von Expontentialfunktionen, gestalten sich aber insofern schwieriger, als dass sämtliche relevanten Zerfallsketten berücksichtigt werden müssen.
Beispiele für Nachzerfallswärme nach langer Betriebsdauer
Nach 11 Monaten Betrieb, einem typischen Brennelementzyklus, nahe der Nennleistung ergeben sich aus der obigen Formel folgende Werte (Leistungswerte und Zeitdauern sind auf den Brennstoffinhalt eines typischen Großreaktors bezogen):
Zeit nach Abschaltung | Nachzerfallswärme in Prozent |
Thermische Leistung in MW bei 4000 MW vor Abschaltung |
Zeit für die Erwärmung von 2500 m³ Wasser von 15 °C auf 100 °C[Anm. 2] |
---|---|---|---|
10 Sekunden | 3,72 % | 149 | 100 min |
1 Minute | 2,54 % | 102 | 146 min |
1 Stunde | 1,01 % | 40 | 6 h |
1 Tag | 0,44 % | 18 | 14 h |
3 Tage | 0,31 % | 13 | 20 h |
1 Woche | 0,23 % | 9 | 26 h |
1 Monat | 0,13 % | 5 | 49 h |
3 Monate | 0,07 % | 3 | 89 h |
Abklingvorgang nach Brennelementwechsel
Auch mehrere Monate nach dem Betrieb können Brennelemente ohne Kühlung wieder den Schmelzpunkt erreichen. Um die Nachzerfallswärme verbrauchter („abgebrannter“) Brennelemente abzuführen, müssen die Brennstäbe noch mehrere Jahre in den zu einem Kraftwerk gehörenden, mit Wasser gefüllten Abklingbecken gelagert werden, die die Wärme wiederum über Kühlkreisläufe abführen.
Siehe auch
- Auslegungsstörfall
- Dampfblasenkoeffizient
- Kühlmittelverluststörfall
- Liste von Unfällen in kerntechnischen Anlagen
- Sicherheit von Kernkraftwerken
Einzelnachweise
- ↑ RETRAN-02. Nuclear Power Industry Engineering & Consulting. CSA, abgerufen am 27. März 2011 (englisch).
- ↑ Neil E. Todreas and Mujid S. Kazimi: Nuclear Systems I, Thermal Hydraulic Fundamentals. 2 Auflage. Hemisphere Publishing Corporation, New York 1990, ISBN 0-89116-935-0.
- ↑ K. Way, E. P. Wigner: "Radiation from Fission Products", Technical Information Division, United States Atomic Energy Commission, Oak Ridge, Tennessee, 1946. K. Way, E. P. Wigner: "The Rate of Decay of Fission Products", in: Physical Review 73 (1948), 1318–1330.
Anmerkungen
- ↑ Der Wirkungsgrad des Reaktors entspräche dementsprechend rund 30 %, siehe auch Wirkungsgrad Beispiele
- ↑ Inhalt eines olympischen Schwimmbeckens