Gicht
Klassifikation nach ICD-10 | ||
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M10 | Gicht | |
ICD-10 online (WHO-Version 2013) |
Die Gicht (Urikopathie) ist eine Purin-Stoffwechselerkrankung, die in Schüben verläuft und (bei unzureichender Behandlung) durch Ablagerungen von Harnsäurekristallen (Urat) in verschiedenen peripheren Gelenken und Geweben zu einer gelenknahen Knochenresorption und Knorpelveränderungen sowie durch langfristige Schädigung des Ausscheidungsorgans Niere letztlich zur Niereninsuffizienz führt. Die Schädigung der Nieren geschieht schmerzlos, ist aber das größere Problem als die schmerzhaften Gichtattacken an den Gelenken.
Symptome
Akut
Akute Symptome sind plötzliche starke Schmerzen in einem Gelenk und heftige Schmerzen bei Berührung: "Arthritis urica". Das Gelenk ist gerötet, extrem schmerzhaft, stark geschwollen und überwärmt (Dolor – Tumor – Calor – Rubor), außerdem allgemeine Entzündungszeichen wie Fieber, vermehrte weiße Blutkörperchen und erhöhte Harnsäurewerte vor dem Anfall (im akuten Gichtanfall oft normale Harnsäurewerte), selten auch Kopfschmerzen.
Ein Gelenk wird ohne eine Verletzung oder eine andere nachvollziehbare Ursache hochschmerzhaft, geschwollen und heiß. Oft ist das Großzehengrundgelenk betroffen, man nennt das Podagra (aus dem Griechischen podágra, im Lateinischen so verwendet von Seneca, Cicero u.a.; ágra steht für ‚Fang, Fessel‘, pod für ‚Fuß‘ bzw. chir für ‚Hand‘). Chiragra sind gichtbedingte Schmerzen im Handgelenk. Grundsätzlich kann der akute Gichtanfall – auch der erste – jedes Gelenk betreffen. Der Gichtanfall hält unbehandelt in der Regel zwei bis drei Wochen an, die Dauer der Anfälle kann im Krankheitsverlauf zunehmen. Die Anfälle können in der chronischen Phase auch ineinander übergehen, so dass es keine schmerzfreien Intervalle mehr gibt.
Chronisch
Wenn mehrere Anfälle abgelaufen sind, entwickelt sich eine chronische Gicht. Die Gelenke werden zerstört, charakteristisch sind im Röntgenbild gelenknahe Stanzdefekte in der Spongiosa, der Gelenkkopf weist deutliche Defekte auf. Die Folgen sind Einschränkung der Leistungsfähigkeit, Harnsäurekristallablagerungen in Gelenken, Gelenkdeformation, Nierensteine, Nierenversagen. Wenn die Gicht in die chronische Phase übergeht, werden die akuten Anfälle oft weniger deutlich und weniger schmerzhaft.
Hyperurikämie
Man unterscheidet zwei Ursachen der Hyperurikämie, d.h. dem erhöhten Harnsäurespiegel im Blut: die primäre und die sekundäre Form.
- Die primäre Form ist eine Störung des Purinstoffwechsels. Sie entsteht durch eine Ausscheidungsstörung der Niere. In sehr seltenen Fällen kann auch eine Überproduktion von Harnsäure die Ursache sein. Die primäre Form tritt häufiger auf als die sekundäre.
- Bei der sekundären Form verursachen verschiedene Begleiterkrankungen den erhöhten Harnsäurespiegel.
Ursachen
In weit über 99 % aller Fälle (ohne äußere Einwirkung) liegt der Hyperurikämie eine Nierenfunktionsstörung zugrunde. Bei diesen Patienten liegt eine erbliche Ausscheidungsstörung der Niere für Harnsäure vor, bei ansonsten normaler Nierenfunktion. Eine Hyperurikämie kann auch bei Nierenfunktionsstörungen anderer Ursache, wie z.B. Diabetes mellitus, eine Folge sein, da über längere Zeit ein zu hoher Blutzuckerspiegel die Blutgefäße schädigt, wodurch die Nierenfunktion beeinträchtigt wird. Außerdem schadet ein übermäßiger Alkoholkonsum, da Carbonsäuren mit der Harnsäure im Ausscheidungsmechanismus der Niere konkurrieren. Zudem liefert Bier durch die noch enthaltenen Hefereste zusätzlich harnsäurebildende Purine.
Weiter kann eine Störung des Purinstoffwechsels vorliegen. Meist liegt eine Störung des HGPRT (Enzym) in der Wiederverwertung der Purinbasen vor. Bei völligem Fehlen dieses Enzyms führt dies zum Lesch-Nyhan-Syndrom.
Diagnostik
Ein erhöhter Harnsäurespiegel lässt sich im Blut nachweisen. Dabei sollte man aber bedenken, dass der Blutspiegel, abhängig von dem, was gegessen oder getrunken wurde, recht schnell schwanken kann. Kommt es zu einem Gichtanfall, kann der Harnsäurespiegel im Blut im Normbereich liegen, dies schließt eine Gicht nicht aus. Meist ist das klinische Bild ausreichend.
- Labor
(fakultative Veränderungen)
- Leukozytenanstieg
- Anstieg der Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG)
- Anstieg der Harnsäure auf > 6,5 mg/dl
Bei einem Anstieg der Harnsäure auf > 8 mg/dl erleiden 25 % der Patienten, bei einem Anstieg auf > 9 mg/dl erleidet nahezu jeder Patient einen Gichtanfall. Neuere Studien berichten, dass sich nur bei etwa 5 % der Patienten mit hohen Harnsäurewerten tatsächlich eine Gicht entwickelt.[1]
Außerdem lassen sich bei chronischem Verlauf der Erkrankung typische Veränderungen der Knochen im Röntgenbild nachweisen (z. B. Gelenkzerstörung und gelenknahe Usuren, Tophi). In der Urografie dient die indirekte Darstellung einzelner Uratsteine der Diagnosestellung (sind im Röntgenbild nicht darstellbar). Schließlich kann bei Unklarheit auch eine direkte Gelenkpunktion bei Vorliegen von Uratkristallen in der Synovialanalyse die Diagnose sichern.
Therapiemöglichkeiten
Akuter Gichtanfall
- NSAR
- Hemmt die Teile der Synthese von Prostaglandinen durch Hemmung eines Enzyms des Entzündungsstoffwechsels (Cyclooxygenase), was eine Schmerzsenkung und Entzündungshemmung zur Folge hat. Am besten dokumentiert ist Indometacin, das jedoch häufig Nebenwirkungen verursacht. Gängigere Mittel mit geringeren Nebenwirkungen sind Ibuprofen und Diclofenac. Für die Gichttherapie nicht geeignet ist Acetylsalicylsäure, da sie die Harnsäureausscheidung verlangsamen kann.
- Colchicin
- Aufgrund der Nebenwirkungen zunehmend weniger in Gebrauch. Hindert Leukozyten (besonders Makrophagen) daran, Harnsäurekristalle (Urat) aufzunehmen, und mindert so die von diesen Zellen und ihren abgegebenen Cytokinen unterhaltene Entzündungsreaktion. Die Anwendung des Giftes der Herbstzeitlosen ist so alt wie die Medizin, aufgrund der hohen Toxizität kommt Colchicin heute jedoch nur noch selten zur Anwendung. Nachdem Colchicin lange Zeit in hoher Dosierung verabreicht worden war, wird heute – rein empirisch – eine niedrigere Dosierung empfohlen. Niereninsuffizienz ist eine Kontraindikation.
- Cortisol
- Körpereigenes Hormon, das stark entzündungshemmende Wirkungen hat. Kortikosteroide, intraartikulär und/oder systemisch verabreicht, haben in den letzten Jahren einen größeren Stellenwert in der Gichttherapie erhalten, ohne dass ihre Wirkung in aussagekräftigen Studien untersucht worden wäre. Steroide sind bei Niereninsuffizienz nicht kontraindiziert.
All diese Medikamente bekämpfen nur die Symptome.
Chronische Gicht
- Ernährungsumstellung
- Eine purinarme Kost wird empfohlen, zeigt aber nur eine mäßige Reduktion des Harnsäurespiegels. Deutlichere Effekte auf die Harnsäure im Blut wurde mit einer mäßig kalorien- und kohlenhydratreduzierten Diät mit erhöhtem Anteil an Eiweiß und ungesättigten Fettsäuren erzielt[2]. Als eiweißreiche Nahrungsmittel sind dabei Milchprodukte geeigneter als Fleisch oder Fisch.[3].
- Urikosurika
- Hemmen Rückresorption der Harnsäure in die Nieren und fördern damit deren Ausscheidung.
- Im Handel befindliche Urikosurika sind:
- Urikostatika
- Hemmer der Xanthinoxidase führen zu einer verminderten Harnsäurebildung durch kompetitive Hemmung der Xanthinoxidase, die Hypoxanthin in Xanthin und weiter in Harnsäure oxidiert. Zusätzlich bewirkt die dadurch erhöhte Hypoxanthinkonzentration eine Hemmung der Purinsynthese. Wirkstoffe sind Allopurinol und Febuxostat.[4] Allopurinol ist dabei das seit 1964 eingesetzte Mittel der ersten Wahl. Die Tagestherapiekosten bei Febuxostat sind zehnmal höher als bei dem als Generikum verfügbaren Allopurinol. Ebenso wird ein erhöhtes kardiales Risiko diskutiert. Febuxostat hat jedoch einen Stellenwert bei Patienten mit Nierenfunktionsstörung, da es weitestgehend über die Leber verstoffwechselt wird, Unverträglichkeit gegen Allopurinol und Polymedikation aufgrund des geringeren Wechselwirkungspotentials.[5]
Harnsäurebildung durch Lebensmittel (Auswahl)
- hohe Harnsäurekonzentration (über 200 mg/100 g): Forelle, Hering, Sprotten, Grillhähnchen, Leber, Niere, Kalbsbries, Kernfleisch, Fleischbrühe, Suppenwürfel und Bäckerhefe[6]
- mittlere Harnsäuremenge (80–150 mg/100 g): Schollenfilet, Bierschinken, Muskelfleisch (Rind, Schwein, Huhn, Wild), Hülsenfrüchte und Erdnüsse[7]
- keine/wenig Harnsäure (0–50 mg/100 g): Milch, Joghurt, Ei, Kürbis, Paprika, Kartoffel, Apfel, Vollkornbrot, Weißbrot und Käse[8]. Allerdings sind Milchprodukte häufig mit Fructose angereichert. Bei der Umwandlung nach dem Verzehr fällt IMP an, das über den Purinabbau die Konzentration der Harnsäure im Körper ansteigen lässt.[9]
- Bei Getränken sind vorrangig Bier (10–23 mg/100 g) und Cola (10 mg/100 g) Purinquellen.[10]
Die in Kaffee, schwarzem Tee und Kakao enthaltenen Purine werden nicht zu Harnsäure abgebaut, können also weiterhin konsumiert werden.
Zipperlein
Eine veraltende Bezeichnung für einen akuten Gichtanfall ist „Zipperlein“, das vom spätmittelhochdeutschen zipperlīn, mittelhochdeutsch von zipfen für ‘trippeln’ abgeleitet wurde und sich spottend auf den Gang des Erkrankten bezog. Erweitert wurde die Bedeutung für weitere Gebrechen.[11] So beschrieb Adelung in seinem 1801 veröffentlichten Wörterbuch bereits Zipperlein als
„ein im Hochdeutschen größten Theils veraltete Benennung, sowohl des Podagra, als des Chiragra. Das Zipperlein haben, bekommen. Das Zipperlein an den Händen. Es ist nicht von dem heil. Cyprian, dem Heiligen wider diese Krankheit, wie Zeiler will, sondern von einem noch in den niedrigen Sprecharten vorhandenen Verbo zippern, zippeln, oft und in kleinen Absätzen zucken und zupfen gebildet, wie podagrische Kranke in den Schmerzen des Podagra zu thun pflegen. Diese Niedrigkeit des Verbi ist denn auch die Ursache, daß man das davon abgeleitete Substantivum veralten lassen, zumahl da auch dessen Form, als ein Diminutivum, keinen begreiflichen Grund hat.“
– Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 1881[12]
Angewandt und daher namensstiftend wurde auch das Zipperleinskraut. [13]
Literatur
- C. Müller: Gichterkrankung - Purinarme Kost gegen Schmerzen. aus: UGB-Forum. 2/00, S. 68–71, UGB-Verband, 2000.
- Anne-Kathrin Tausche et al.: Gicht – aktuelle Aspekte in Diagnostik und Therapie. In: Dtsch Arztebl Int. Nr. 106(34-35), 2009, S. 549–555 (Artikel).
- Ursula Gresser: Diagnose und Therapie der Gicht, Deutsche Ärzteblatt 2003; 100(44): A-2862 / B-2379 / C-2235 (http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/lit.asp?id=39139)
Zur Geschichte der Gicht
- Gerhard Eis: Erhard Knabs Gichtregimen (1469). In: Medizinische Monatsschrift. 7 (1953), S. 523–527.
Einzelnachweise
- ↑ MedizInfo: [1]
- ↑ P. H. Dessein et al.: Beneficial effects of weight loss associated with moderate calorie/carbohydrate restriction, and increased proportional intake of protein and unsaturated fat on serum urate and lipoprotein levels in gout: a pilot study. In: Ann Rheum Dis. 2000;59, S. 539-543.
- ↑ H.K. Choi et al.: Purine-rich foods, dairy and protein intake, and the risk of gout in men. In: The New England Journal of Medicine. 2004;350(11), S. 1093.
- ↑ Becker MA, Schumacher HR, Wortmann RL, et al.: Febuxostat compared with allopurinol in patients with hyperuricemia and gout. In: The New England Journal of Medicine. 353, Nr. 23, Dezember 2005, S. 2450–2461. doi:10.1056/NEJMoa050373. PMID 16339094. Abgerufen am 20. August 2010.
- ↑ P Christalla, K. Wittköpper, A. Al-Armouche : Febuxostat, ein neues Pharmakon zur Behandlung der Gicht, Der Kardiologe, Januar 2011, S. 45-50
- ↑ Bayerisches Staatsministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz: Tabelle der Lebensmittel mit hohem Harnsäuregehalt.
- ↑ Bayerisches Staatsministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz: Tabelle der Lebensmittel mit mittlerem Harnsäuregehalt.
- ↑ Bayerischen Staatsministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz: Tabelle der Lebensmittel mit sehr geringem Harnsäuregehalt.
- ↑ Duk-Hee Kang, Richard J. Johnson: Hyperuricemia, Gout, and the Kidney. In: Robert W. Schrier: Diseases of the kidney & urinary tract. 8. Auflage. Lippincott Williams & Wilkins, 2007, ISBN 978-0-7817-9307-0, S. 1986–1988.
- ↑ Nepomuk Zöllner, Brigitte Zöllner: Diät bei Gicht und Harnsäuresteinen. Falken Verlag, Niedernhausen/Ts. 1990, ISBN 3-8068-3205-6.
- ↑ Zipperlein in duden.de, abgerufen am 25. Oktober 2012
- ↑ Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Band 4. Leipzig 1801, S. 1724. hier online auf zeno.org
- ↑ Pierer's Universal-Lexikon. Band 19. Altenburg 1865, S. 652. hier online auf zeno.org
- Komplettes Lehrbuchkapitel zur Gicht im Lehrbuch "Rheumatologie" mit allen Details zu Krankheit, Diagnose und Behandlung: http://www.praxisklinik-gresser.de/aktuelle-publikationen/
Weblinks
- Hyperurikämie und Gicht - Diagnostik – Artikel in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift
- Informationen des Bayerischen Staatsministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz – Gicht und Gichtprävention (im Internet Archive)
- Gicht Informationen des Instituts für Ernährungsinformation
- Die Gicht – Sinnbild der Völlerei? – Wofür ist Harnsäure gut?
- Engelhardt: Lexikon Orthopädie und Unfallchirurgie - Gicht (Arthritis urica)
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