Armand-Jean-François Seguin

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Armand-Jean-François Seguin (* März 1767 in Paris; † 24. Januar 1835 in Paris) war ein französischer Chemiker, Armeelieferant, Wirtschaftswissenschaftler und Finanzier.

Leben

Frühe Begeisterung für Chemie

Armand Seguin war der Sohn eines Verwalters des Herzogs von Orléans.[1] Er war der Académie royale des sciences im Bereich Chemie angeschlossen und 1793 Mitglied der Commission Temporaire des Arts für das Gebiet Physik. Sein Interesse war aber von weitaus größerem Umfang. Joseph-Marie Quérards Bibliographisches Lexikon La France littéraire nennt von ihm allein 72 Broschüren, überwiegend zu Finanzthemen. Er veröffentlichte in den Annales de Chimie und dem Journal de Physique. Seguin gelangte in den Mitarbeiterkreis von Lavoisier, mit dem er über die menschliche und tierische Atmung arbeitete. Verdienst erlangte er dabei weniger durch das Einbringen eigener Ideen, als vielmehr durch die öffentliche Verfechtung von Konzepten wie der Kalorischen Theorie, die von 1780 bis 1820 Zuspruch fand und erst in den späten 1850ern durch die Kinetische Gastheorie verdrängt wurde.[2]

Marie Lavoisier bot Seguin nach der Hinrichtung ihres Mannes eine Mitarbeit bei der Zusammenfassung von Lavoisiers Werk an, doch schien jener zu viel Entdecker-Ehre für sich beanspruchen zu wollen, woraufhin sie das Zusammenwirken beendete. Umgekehrt hatte aber auch Seguin sich nicht für einen Seitenhieb auf jene Kollegen Lavoisiers hergeben wollen, die in der Zeit von dessen Not keinen Finger für ihn gerührt hatten.[3] Eine zusammen mit Lelièvre und Pelletier 1814 veröffentlichte Denkschrift über Opium besagte, dass Seguin mit seinen Experimenten bis 1804 so weit gediehen war, Mekonsäure erzeugen zu können, ohne jedoch zu wissen, ob es sich dabei um eine bestimmte Säure oder um eine mit pflanzlichen Bestandteilen verunreinigte Mischung handelte.[4]

Gewinn bringende Erneuerung der Lederherstellung

Wahrscheinlich war Seguin zur Zeit der Französischen Revolution noch nicht so reich, dass er unter der Terrorherrschaft hätte Repressalien befürchten müssen, er gelangte aber kurz darauf zu bemerkenswertem Reichtum. Der Wohlfahrtsausschuss beauftragte am 31. Oktober 1793 den Chemiker Berthollet, sich um eine Verbesserung der gängigen Gerbverfahren zu kümmern, und stellte ihm die nötigen Gelder zur Verfügung. Er wusste von Seguins mehrjährigen Versuchen auf diesem Gebiet und überbrachte dem Wohlfahrtsausschuss die Ergebnisse, mit dem Vorschlag, die Forschungsarbeiten zu unterstützen. Nachdem seine Erfindung reif zur Präsentation war, konnte Seguin den Prozess an etwa hundert Tierhäuten vor einer Kommission demonstrieren: Was bisher zwei Jahre in Anspruch genommen hatte, lieferte nun selbst dicke Leder in wenigen Tagen.[5]

Gleichzeitig bestand politisch eine Situation, in der sich die Öffentlichkeit in einem Gefühl der nationalen Gefährdung befand, was alle Erfindungen begünstigte, die geeignet schienen, die Verteidigungskraft zu erhöhen. Selbst Wissenschaftler, die sonst als ruhig und bedächtig galten, ließen sich von der allgemeinen Raserei erfassen, so auch der berühmte Fourcroy, der am 3. Januar 1795 dem Nationalkonvent von der Erfindung Seguins berichtete, die tauglich war, den Armeen in viel kürzerer Zeit zu Schuhen zu verhelfen:

„Die alte Gerbung dauerte fast zwei Jahre… Man vergrub die Häute in einer Packung von Gerbmittel für achtzehn Monate oder zwei Jahre. Das neue Gerben liefert wegen der Entdeckungen des Bürgers Seguin bei Kalbshäuten in 24 Stunden und bei den viel stärkeren Büffelhäuten in sieben bis acht Tagen eine zur Fertigung von Sohlen geeignete Haut. Die Einfachheit des Mittels ist derart, dass jeder Bürger bei sich, für seinen Verbrauch, viel einfacher sogar, wenn er nicht die Lauge macht, die notwendigen Leder für die Herstellung seiner Sohlen machen könnte… Aber weiß man nicht, dass es die einfachsten Dinge sind, die allen Leuten zuletzt einfallen?“[6]

Fourcroy gab zu bedenken, alle Bürger zusammen würden, bei einem Verbrauch von zwei paar Sohlen im Jahr, eine Milliarde für Schuhwerk ausgeben, allein die Armeen seien auf 140 Millionen gekommen.[7] Seguin wurde hoch angerechnet, nach mehr als 2000 Versuchen nicht ein Patent angemeldet, sondern sich der Regierung anvertraut zu haben. Der Nationalkonvent, beeindruckt von Fourcroys Wortgewandtheit, erließ unverzüglich eine Verordnung, nach der Seguin zwei Nationalgüter zu Verfügung gestellt werden sollten, das eine bei Sèvres, das Haus Brancas und die Insel, über die die Brücke bei dieser Gemeinde führte, sowie eines nahe Nemours.[8] Dorthin sollten die Häute aus den Schlachtungen der Armee geliefert werden, die Seguin in den zu errichtenden Fabriken verarbeiten würde, als Lieferant für das Schuhwerk aller Armeen der Republik – für neun Jahre.[9] Es kamen von dort dann wirklich Leder und Stiefel, aber die Sohlen waren schwammig und schlapp. Seguin machte trotzdem ein Vermögen und wurde zu einem herausragenden Beispiel jenes Personenkreises, den man schon am Ende des 18. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 19. „Neureiche“ nannte.[8]

Ein Mann mit Marotten

Sein Bedürfnis, die Welt in Staunen zu versetzen, trieb Seguin zu den seltsamsten Verhaltensweisen: Bei seinen sehr eleganten Empfängen scheute er nicht, sich in Jackett und Pantoffeln zu zeigen, einmal ließ auf seinem Anwesen Château de Jouy ein Feuerwerk abbrennen, dessen Funken die Gesichter der Zuschauer zu verbrennen drohten. Als sie flüchteten, fielen sie in Jagdfallen, die er mit Laub hatte abdecken lassen. Für all den betriebenen Aufwand zahlte er aber erst, wenn der Gerichtsvollzieher vorstellig wurde.[10] In seinem Palais in der Rue d’Anjou fand sich eine berühmte Galerie, auch die Musik hatte ihren Raum, nur nahm er zu Forschungszwecken die alten Geigen des 17. und 18. Jahrhunderts auseinander.[11] Er sorgte für Schlagzeilen, auch mit seinen Gerichtsverfahren, was eben daran lag, dass er von einer unbeugsamen Härte war, wenn ihm jemand etwas schuldete.

Der Finanzmensch Seguin

Dank seines großen Vermögens konnte Seguin neben seinem ursprünglichen Gewerbe Finanzgeschäfte machen. Er betätigte sich 1800 als Staatsfinanzier mit den sogenannten Zwanzig vereinigten Kaufleuten (Vingt Négociants réunis), 1801 probierte man es zu zehnt erst ohne ihn, um dann doch auf ihn zurückgreifen zu müssen.[12] Schließlich kam es 1804 zum Konsortium der Gesellschaft der vereinigten Kaufleute. Aber nicht nur füllten die vereinigten Kaufleute nicht die französische Staatskasse – sie leerten sie –, nicht nur machte Seguin kein Geschäft, er bekam vielmehr von Gabriel-Julien Ouvrard für 7 Millionen Francs unbrauchbare Wechsel einer spanischen Konsolidierungskasse angedreht,[13] und Napoleon machte ihn mit haftbar für die Schäden der Kaufleute, wie er in einem Schreiben an einen Minister darlegte:

„Seguin ist zu einer Million achthunderttausend Francs verurteilt worden. Ich werde mich nicht auf einen Ausgleich verständigen. Ich will die ganze Summe.”[10]

Die Inhaftierung im Gefängnis Sainte-Pélagie mochte die Zahlungsbereitschaft befördert haben, aber auch die Härte, mit der Seguin nun gegen seine Schuldner aus der Angelegenheit – Ouvrard und Vanlerberghe – vorging. Im Sommer 1807 verlor Ouvrard gegen Seguin ein Verfahren, was ihn 7 Millionen Francs kostete.[14] Am 27. Februar 1823 fällte ein Gericht ein Urteil gegen Ouvrard und Vanlerberghes Erben, wonach sie aus gemeinsamen Geschäften Seguin 1,6 Millionen Francs schuldeten, mit Zinsen fast das doppelte.[15] Ouvrards Standpunkt war, den Betrag bereits bezahlt zu haben, wanderte aber auf Betreiben Seguins ins Gefängnis und blieb dort bis 1829.[16] Der Königliche Gerichtshof wiederum erklärte 1833 in einem Urteil, dass die Witwe Vanlerberghes auf betrügerische und unzulässige Weise versucht hatte, durch Eigentumsübertragung sich den Verpflichtungen an Seguin zu entziehen.[17] Da wuchs schon Gras über die Insel mit den ehemals stinkenden Gerbereien, die Natur eroberte sich den Ort zurück und es entstand bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein malerisches Idyll. Im 20. Jahrhundert bebaute der Automobilhersteller Renault die Insel mit einer Fabrik, doch blieb über die Jahrhunderte der Name erhalten: Île Seguin.

Referenzen

  • Joseph-Marie Quérard: La France littéraire, ou Dictionnaire bibliographique des savants, historiens, et gens de lettres de la France, &c., Band IX, Éditeurs G. P. Maisonneuve & Larose, Paris 1964, S. 23–27
  • Stuart Pierson: Séguin, Armand, in Charles Coulston Gillispie (Hrsg.): Dictionary of Scientific Biography, Band 12, Charles Scribner's Sons, New York 1981, S. 286–287

Einzelnachweise

  1. Zu Seguins Geburtsjahr finden sich unterschiedliche Angaben bei den Autoren Partington (1765), Pierson (1767) und Payard (1768)
  2. Armand Seguin: Second mémoire sur le calorique, Annales de Chimie, Band 5 (1790), S. 231–257. Dazu auch Robert Fox: The Caloric Theory of Gases from Lavoisier to Regnault, Oxford University Press, Oxford 1971, S. 32 u. 38–39
  3. Édouard Grimaux: Lavoisier. 1743 – 1794, Félix Alcan, Éditeur, 2. Aufl. Paris 1896 (Nachdruck Éditions Jacques Gabay, Sceaux 1992), S. 331 f.
  4. James R. Partington: A History of Chemistry, Band 3, Macmillan, London u. a. 1962 (Nachdruck 1970), S. 107
  5. Maurice Payard: Le financier G.-J. Ouvrard. 1770 – 1846, Académie nationale de Reims, Reims 1958, S. 90. Erklärt wurde das von Seguin eingeführte Verfahren in einem Bericht von C. H. Lelièvre und Pelletier, der 1797 in den Annales de Chimie, Band 19, S. 15–77 veröffentlicht wurde: Rapport au Comité de Salut Public, sur les nouveaux Moyens de tanner les Cuirs, proposés par le cit. Armand Seguin. Bei der beschriebenen langwierigen Methode handelt es sich offenbar um die sogenannte Altgrubengerbung, bei der nach einer Angerbung in Brühen die Häute in Gruben geschichtet mit Zwischenlagen von gemahlener Eichenrinde eingelegt werden. Das Ergebnis ist ein hochwertiges, strapazierfähiges Leder. Neu war dann ein in Gruben oder Fässern stattfindendes Gerben durch Einhängen in Brühen mit aus Phenolen und Schwefelsäure mit Formaldehyd kondensierten Gerbstoffen. Verkürzt wurde die Gerbzeit dadurch von etwa einem Jahr auf 3 bis 6 Wochen. Heute verwendet man für die Herstellung von Oberleder Lösungen von Chromsulfaten. Meyers Lexikon der Technik und der exakten Naturwissenschaften, Bibliographisches Institut, Mannheim/Wien/Zürich 1970, S. 1617 f.
  6. Arthur-Lévy: Un grand profiteur de guerre sous la Révolution, l’Empire et la Restauration, G.-J. Ouvrard, Calmann-Lévy, Paris 1929, S. 106–107
  7. Maurice Payard: Le financier G.-J. Ouvrard. 1770 – 1846, Académie nationale de Reims, Reims 1958, S. 90. Die Währungseinheit ist unklar, möglicherweise meinte er Francs.
  8. 8,0 8,1 Arthur-Lévy: Un grand profiteur de guerre. Paris 1929, S. 107
  9. Louis Bergeron: Banquiers, négociants et manufacturiers parisiens du Directoire à l’Empire, Mouton Éditeur, Paris u. a. 1978, S. 155
  10. 10,0 10,1 Arthur-Lévy: Un grand profiteur de guerre. Paris 1929, S. 108
  11. Otto Wolff: Die Geschäfte des Herrn Ouvrard. Aus dem Leben eines genialen Spekulanten, Rütten & Loening, Frankfurt am Main 1932, S. 242
  12. Louis Bergeron: Banquiers, négociants et manufacturiers parisiens. Paris u. a. 1978, S. 148
  13. Marten G. Buist: At spes non fracta. Hope & Co. 1770 – 1815. Merchant bankers and diplomats at work, Martinus Nijhoff, Den Haag 1974, S. 306
  14. Marten G. Buist: At spes non fracta. Den Haag 1974, S. 361
  15. Otto Wolff: Die Geschäfte des Herrn Ouvrard. Frankfurt am Main 1932, S. 292
  16. Otto Wolff: Die Geschäfte des Herrn Ouvrard. Frankfurt am Main 1932, S. 294
  17. Otto Wolff: Die Geschäfte des Herrn Ouvrard. Frankfurt am Main 1932, S. 296

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