TGN1412

TGN1412

TGN1412 ist ein agonistischer monoklonaler Antikörper, der gegen das CD28-Antigen auf T-Lymphozyten gerichtet ist und zur Behandlung von Multipler Sklerose, Blutkrebs und Rheuma vorgesehen war. Der Antikörper wurde von der Würzburger Firma Tegenero Immuno Therapeutics entwickelt und von Boehringer Ingelheim hergestellt. Es war der erste Wirkstoff, den TeGenero zur Marktreife entwickeln wollte. Der Nutzen des Antikörpers sollte nach Angaben des Herstellers darin bestehen, bei Autoimmunkrankheiten und Blutkrebs ein zu stark oder ein zu schwach reagierendes Immunsystem therapeutisch auszubalancieren.

Bekannt wurde TGN1412 auch in Nicht-Fachmedien, als es während einer klinischen Studie zu schwerwiegenden Zwischenfällen (so genannten schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen) bei den gesunden Probanden kam.

Phase-I-Studie

Nach entsprechenden Tests an Zellkulturen und in Tierversuchen fand am 13. März 2006 in einer Phase-I-Studie der erste Test an Menschen statt, an dem in dem Londoner Northwick Park Krankenhaus insgesamt acht Probanden teilnahmen. Die Studiendurchführung lag bei dem Auftragsforschungsinstitut Parexel. Wie bei Medikamententests üblich, erhielten die Probanden für ihre Teilnahme jeweils einen Geldbetrag von 2.000 £ (etwa 2.900 €). Sie erhielten dabei jeweils nur eine angenommen subklinische Dosis von 0,1 mg pro kg Körpergewicht (etwa 1/500 der vorher im Tierversuch als gefahrlos ermittelten Menge).

Symptome

Bei allen sechs Männern, die den Wirkstoff erhielten, kam es binnen fünf Minuten nach der Verabreichung zu schweren Reaktionen; die anderen beiden Probanden bekamen ein Placebo und zeigten keine Wirkungen. Die betroffenen Probanden klagten erst über Kopfschmerzen, starke Hitzewallungen und Fieber, gefolgt von Erbrechen, starken Schmerzen und Symptomen einer schweren Entzündungsreaktion. Einer der Probanden gab an, er fühle sich am ganzen Körper brennend.

Wenige Stunden später stellten Ärzte multiples Organversagen fest; die Probanden mussten teils künstlich beatmet werden. Die sechs Patienten wurden 12 bis 16 Stunden nach Gabe des Antikörpers auf die Intensivstation des Krankenhauses verlegt und schwebten dort tagelang in Lebensgefahr. Einer der Betroffenen, David Oakley, gab in der Presse an, erst dort sei er wirksam medikamentiert worden; er verbrachte drei Wochen im Koma.

Medizinische Wirkungen

Fünf der Erkrankten wurden binnen eines Monats aus dem Krankenhaus entlassen, der Sechste verließ es nach 14 Wochen, am 26. Juni 2006.

Untersuchungen mit Blick auf die Langzeitwirkungen zeigten dann bei vier Betroffenen einen Anteil an regulatorischen T-Lymphozyten von unter einem Prozent im Blut, während drei bis fünf Prozent bei gesunden Menschen üblich sind. Da diese Zellen für die Vermittlung der Toleranz des Immunsystems gegenüber körpereigenem Gewebe von entscheidender Bedeutung sind, wurde daraufhin von Ärzten das Risiko von weiteren schweren Folgeerkrankungen wie Multiple Sklerose oder anderen Autoimmunerkrankungen als hoch bewertet.

Ursachen

Bei Tierversuchen hat es laut TeGenero keine Probleme gegeben. Der Hersteller hat sich bei den Familien der Betroffenen entschuldigt und versichert, dass die Effekte völlig unerwartet auftraten und dass die Verfahrensvorschriften genau beachtet wurden. Ein Untersuchungsausschuss der Staatsanwaltschaft untersuchte die Schuldfrage weiter.

Als mögliche Ursachen wurden anfangs Verunreinigung, Dosierungsfehler oder eine unvorhergesehene Wirkung des Medikaments auf das menschliche Immunsystem in Betracht gezogen. Die britische Arzneimittelaufsicht Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) führte eine Untersuchung durch, darunter auch eine Inspektion beim Hersteller vom 22. bis 24. März 2006. Diesem Bericht nach sei die Reaktion nicht auf eine fehlerhafte Herstellung, auf eine Kontaminierung des Präparats oder auf eine fehlerhafte Dosis zurückzuführen. Somit habe sich der Hersteller bei diesem „unvorhersehbaren Unglück ... keine Unregelmäßigkeiten“ zu Schulden kommen lassen. Vielmehr sei die Reaktion der eigentlichen Zielwirkung („on target effects“) der Substanz zuzuschreiben.

Als Ursache für die beobachteten Wirkungen wurde ein durch die Antikörper ausgelöster Zytokinsturm identifiziert, der ein systemisches inflammatorisches Response-Syndrom ausgelöst hatte. Der Antikörper wurde final nur bei Affen (Makaken) getestet. Spätere Untersuchungen zeigten, dass die Aminosäuresequenz des CD28-Moleküls, das Ziel von TGN1412, bei Makaken zwar nur sehr gering von der Sequenz beim Menschen abweicht, diese Abweichungen jedoch ausreiche, um beim Menschen einen Zytokinsturm auszulösen, während bei Makaken und Mäusen sich nichts derartiges andeutete. Der Unterschied in der Wirkung des Antikörpers ist durch einen geringfügigen Unterschied in der räumlichen Konformation des CD28-Moleküls und einen dadurch bedingten geringen Lageunterschied der antigenen Sequenz bedingt. Dies führt beim Menschen zu einer basaleren Bindung des Antikörpers an CD28 als bei Makaken, was wiederum zum Crosslinking (zur Kreuzvernetzung wie bei Allergie und B-Zellen beschrieben) des CD28-Moleküls führt. Daher wirkt dieser Antikörper beim Menschen als Superantigen und führt nach Gabe zur CD28-Aktivierung und T-Zell-Aktivierung. Nach Aktivierung schütten alle aktivierten T-Zellen sofort und simultan gespeicherte Zytokine aus, insbesondere IL-2, und produzieren proinflammatorische Zytokine wie IL-1, IL-2, IL-10 und TNF-α. Daher kommt es zu besagtem Zytokinsturm, der ein sepsisähnliches Krankheitsbild mit Multiorganversagen verursachen kann.[1][2][3]

Auswirkungen

In Großbritannien und anderen Staaten ist in Folge eine heftige Debatte um die Sicherheitsvorkehrungen bei Medikamententests entbrannt. Insbesondere wird kritisiert, dass allen Probanden das Medikament gleichzeitig verabreicht wurde, was allerdings die zu diesem Zeitpunkt übliche Praxis darstellte.

In Deutschland war die Studie sowohl von der ehemaligen Ethikkommission der Ärztekammer Berlin als auch von der zuständigen Bundesbehörde, dem Paul-Ehrlich-Institut, genehmigt worden. Der Entwickler des Antikörpers, Thomas Hünig, erklärte, die Immunreaktion sei aus seiner Sicht „mechanistisch nicht erklärbar“.

Regulatorische Konsequenzen

Als Konsequenz aus diesem Fall verabschiedete der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) an der Europäischen Arzneimittelagentur am 19. Juli 2007 neue Leitlinien zur Risikoidentifizierung und -minimierung bei der Erstanwendung neuer Arzneimittel am Menschen, die seit dem 1. September 2007 bindend sind. Ihnen zufolge muss für alle Erstanwendungen am Menschen eine umfassende Risikoabschätzung durchgeführt werden. Falls die Substanz einen neuartigen Wirkungsmechanismus zeigt, im Körper eine Zielstruktur mit erhöhtem Risikopotential hat oder wenn die Relevanz der in der präklinischen Forschung benutzten Tiermodelle fraglich ist, muss die Anfangsdosis nach dem Minimal Anticipated Biological Effect Level (MABEL) bestimmt werden. Weitere vorgeschriebene Vorsichtsmaßnahmen in solchen Fällen beziehen sich auf das Studiendesign wie beispielsweise die sequentielle Verabreichung an einzelne Probanden. Das Paul-Ehrlich-Institut hat im Oktober 2007 für Deutschland Ergänzungen und Konkretisierungen zu diesen EU-einheitlichen Leitlinien publiziert.[4][5]

Quellen

  1. Aufbereitete Darstellung des BMBF der Ende März 2008 publizierten Arbeiten in Plos One und JCI: Tegenero-Fall aufgerollt: Forscher klären Wirkmechanismus des Antikörpers auf
  2. Schraven B, Kalinke U: CD28 superagonists: what makes the difference in humans?. In: Immunity. 28, Nr. 5, Mai 2008, S. 591–5. doi:10.1016/j.immuni.2008.04.003. PMID 18482560.
  3. Ganesh Suntharalingam, F.R.C.A., Meghan R.P.: Cytokine Storm in a Phase 1 Trial of the Anti-CD28 Monoclonal Antibody TGN1412. In: NEJM. 355, Nr. 10, September 2006, S. 1018-28. PMID 16908486.
  4. http://www.emea.europa.eu/pdfs/human/swp/2836707enfin.pdf Guideline on strategies to identify and mitigate risks for first-in-human clinical trials with investigational medicinal products
  5. C. K. Schneider, U. Kalinke: Nach dem TGN1412-Zwischenfall. Prinzipien der Bewertung von First-in-Man-Studien mit monoklonalen Antikörpern durch das Paul-Ehrlich-Institut. Bundesgesundheitsblatt 50, Heft 10, Oktober 2007, S. 1213–1220, doi:10.1007/s00103-007-0331-6

Weblinks