Stephen Jay Gould

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Stephen Jay Gould (* 10. September 1941 in New York; † 20. Mai 2002 ebenda) war ein US-amerikanischer Paläontologe, Geologe und Evolutionsbiologe.

Leben

Gould war in jungen Jahren schon politisch aktiv, etwa gegen rassengetrennte Lokale oder gegen den Vietnamkrieg. Er besuchte das Antioch College in Yellow Springs, Ohio und studierte Paläontologie und Evolutionsbiologie an der Columbia University, wo er 1967 promoviert wurde. Danach war er Assistant Professor, ab 1971 Associate Professor und seit 1973 Professor für Geologie an der Harvard University. Daneben war er Autor etlicher erfolgreicher populärwissenschaftlicher Bücher, die sich durch eine klare Sprache auszeichnen, und dadurch einer der bekanntesten Wissenschaftler überhaupt. Er meinte, dass er seinen Stil auch für seine Kollegen nicht zu ändern bräuchte, und seine Bücher auch vor ihnen in der gleichen Art und Weise bestehen könnten. Sein essayistischer Stil wird fallweise mit Montaigne verglichen. Den Höhepunkt seiner Bekanntheit zu Lebzeiten erreichte Gould in einem Gastauftritt seines gezeichneten Alter Egos in der Fernsehserie Die Simpsons (Staffel 9, Folge 8 – Der Tag der Abrechnung).

1981 war er MacArthur Fellow.

Erkrankung

Stephen Jay Gould erkrankte im Juli 1982 an Mesotheliom (obwohl keine Asbestose o. Ä. vorlag). Nach der Diagnose attestierten ihm die Ärzte eine Lebenserwartung von acht Monaten, die er um fast 20 Jahre überlebte. Seine Leidensgeschichte verarbeitete er in dem Aufsatz The Median isn’t the Message. Am 20. Mai 2002 starb Gould in New York an Lungenkrebs.

Zeitlebens setzte sich Gould für eine Betrachtung der gesamten Variationsbreite eines Systems ein: Sei es bei der Analyse seiner Krebserkrankung in den achtziger Jahren (50 % der Betroffenen leben länger als acht Monate; Mortalität von acht Monaten bedeutet nicht, dass der Tod nach acht Monaten eintritt), oder sei es bei der Betrachtung der Geschichte des Lebens (vgl. Evolution und Fortschritt).

Wirken

Ebenso grundlegend für sein Denken ist ein makroevolutionärer Zugang, welchen er wiederholt in Fachaufsätzen und Monographien publiziert hat. Als paradigmatisches Beispiel kann die Theorie des „unterbrochenen Gleichgewichts“ (punctuated equilibrium oder Punktualismus) gelten, welche er mit Niles Eldredge zusammen entwickelt hat. Demnach vollzieht sich die Evolution nicht in stetigen kleinen Schritten mit konstanter Geschwindigkeit (Phyletic Gradualismus). Vielmehr sollen sich – in geologischen Maßstäben – relativ kurze Phasen schneller Veränderung mit längeren Zeiträumen ohne Veränderung (Stasis) abwechseln. Diese Theorie war unter Kollegen umstritten, da sie oft als eine moderne Version von Richard Goldschmidts Hypothese des Hopeful Monsters missverstanden wurde. Heute ist weitgehend anerkannt, dass sich Evolution, je nach ökologischem Kontext, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abspielt – eine Ansicht, die mit einem Gradualismus mit variabler Entwicklungsgeschwindigkeit vereinbar ist. Kritik richtet sich heute eher an die Bedeutung der Theorie des Punktualismus.[1] Gould zeichnet vor allem auf der Grundlage einer Revision der Untersuchungsergebnisse des Burgess-Schiefer über die kambrische Explosion ein „katastrophisches“ Bild der Evolution, die nur zufällig diesen und nicht einen völlig anderen Verlauf nahm.[2]

Am Punktualismus zeigt sich ein weiteres grundlegendes Charakteristikum von Goulds Denken: eine tiefliegende Skepsis gegenüber der Omnipotenz der natürlichen Selektion. Schon durch die Postulierung einer langen Phase der Stasis in der Lebenszeit der Spezies wird deutlich, dass Organismen ohne Wandel massivste Umweltveränderungen durchleben können. In zwei weiteren Fachpublikationen (Stephen J. Gould/Richard C. Lewontin, 1979 und Stephen J. Gould/Elisabeth Vrba, 1982) setzte er sich dafür ein, dass Eigenschaften eines Organismus auch ohne direkten Funktionsbezug überlebt haben können. Er weist darauf hin, dass die natürliche Selektion eine Negativauswahl kennzeichnet und nicht in adaptionistischer Manier gewisse Eigenschaften dank ihrer Funktion positiv selektiert. In diesen Gedankengang fügt sich auch das Konzept „Exaptation“ ein.

Laut Daniel Dennett haben Goulds Beiträge die Grundfesten des Darwinismus keineswegs ins Wanken gebracht; vielmehr sei Gould der Kern der Evolutionstheorie unangenehm. Hinweise darauf ließen sich beispielsweise in Goulds Aufsatz The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm (1979) erkennen.[3]

Kritik

Goulds populärwissenschaftliche Publikationen wie The Mismeasure of Man stießen in der Fachgemeinde vielfach auf Kritik. Gould wurde vorgeworfen, aus ideologischen Gründen sowohl die Position von Kontrahenten als auch den wissenschaftlichen Kenntnisstand verzerrt wiederzugeben.

Evolution und Fortschritt

Gould wandte sich vielfach gegen den Gedanken, dass Evolution mit Fortschritt gleichzusetzen sei. Er führte sieben Punkte dazu an:

  1. Das Leben entspringt Bereichen geringer Komplexität, Gould spricht hier von einer „linken Wand“: Unter einer gewissen Einfachheit existiert kein Leben, und dem Ursprung des Lebens legt er eine gewisse Einfachheit zu Grunde: „Aus der Ursuppe kann kein Löwe entspringen.“
  2. Stabilität der ursprünglichen Bakterien als Lebensform: Auch wenn die „mittlere Komplexität des Lebens“ größer geworden ist, so haben die so genannten einfachen Lebensformen (Bakterien) bis heute erfolgreich überlebt.
  3. Damit sich Lebensformen ausbreiten konnten, mussten sie immer komplexer werden, weil unter einer gewissen Einfachheit kein Leben existiert. Gould spricht von einer „immer stärkeren rechtschiefen Verteilung“ weg von der „linken Wand geringster Komplexität“.
  4. Die Gesamtverteilung nur durch ihren komplexen Anteil zu beurteilen ist kurzsichtig.
  5. Der angebliche Fortschritt ist nicht gerichtet, sondern zufällig und ungerichtet. Als Metapher führte er an: Der ungerichtete Weg des Betrunkenen zwischen dem Gasthaus links und der Straße rechts führt früher oder später ins Rinnsal. Die linke Grenze ist mit der Komplexität eines lebenden Organismus gleichzusetzen, unter dieser Grenze ist kein Leben möglich, also führt die Summe aller zufälligen Bewegungen früher oder später nach „rechts“, d. h. in Richtung zunehmender Komplexität, dies aber eben zufällig und ungerichtet. Weiter betrachtet er die komplexen Lebewesen als ein „Stolpern“ von sehr unterschiedlichen Formen: Bakterium, Eukaryontenzelle, Meeresalgen, Qualle, Trilobit, Nautilus, Panzerfisch, Dinosaurier, Säbelzahntiger und Homo sapiens.
  6. Eine Kombination von zufälliger Bewegung und einer Tendenz nach rechts weg von der „linken Wand“ erscheint ihm möglich, aber unwahrscheinlich: Er kennt keinen Nachweis für eine bevorzugte Bewegung in Richtung größerer Komplexität.
  7. Ist der Mensch (durch seine Existenz schon) die Krönung der Schöpfung? Gould meint dazu: „Wenn wir das Spiel des Lebens noch einmal spielen könnten, wäre es völlig unvorhersehbar, welche Lebensformen am komplexesten wären; es wäre unwahrscheinlich, dass ein Geschöpf mit einem Bewusstsein (so wie wir) entstände.“

Gould war außerdem ein engagiertes Mitglied der Skeptics Society und engagierte sich für die Popularisierung der Evolutionstheorie und deren Verteidigung gegen den in den USA verbreiteten Kreationismus.

2000 wurde zu Ehren von Gould eine Festschrift for Stephen Jay Gould von der Skeptics Society veranstaltet. Ein ausführlicher Bericht über sein Leben wurde von der Skeptics Society veröffentlicht: Michael Shermer: This View of Science – Stephen Jay Gould as Historian of Science and Scientific Historian. In: Skeptic 9#4, S. 36–55 (2002).

Gould äußerte sich auch mathematisch-methodisch zum Intelligenzquotienten (vgl. The Mismeasure of Man).

Gould, als Biologe, sieht kein Spannungsverhältnis gegeben zwischen Christentum und Evolution:

„A lot of people think there’s an intrinsic conflict between Christianity and evolution, but there isn’t. Religion is about ethics and values, and science is about facts. You need both of them, but they don’t interact very much.“

„Eine Menge Leute denken, es gäbe einen wesentlichen Konflikt zwischen Christentum und Evolution, aber das stimmt nicht. Religion beschäftigt sich mit Ethik und Werten und Wissenschaft beschäftigt sich mit Fakten. Du brauchst beide, aber beide überschneiden sich nicht besonders.“

– Jeremy Manier: Stephen Jay Gould Takes a New Swing at Explaining Evolution.[4]

Religion und Wissenschaft hat Gould wegen dieses Verhältnisses als Nonoverlapping Magisteria bezeichnet.

Einzelnachweise

  1. R. Dawkins (in The Blind Watchmaker, 1986) kritisiert die Theorie eher als trivial und besonders die Aufmerksamkeit, welche sie von Journalisten erfahren hat, als übertrieben. Auch sei die Behauptung Goulds und Eldredges, dass die Synthetische Evolutionstheorie ursprünglich von einer konstanten Entwicklungsgeschwindigkeit ausging, ein Mythos.
  2. Gould: Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur. DTV, München 2004.
  3. Daniel Dennett: Darwin’s Dangerous Idea: Evolution and the Meanings of Life. Simon & Schuster, 1995. ISBN 0-684-80290-2. Kapitel 10.
  4. Aus: Jeremy Manier: Stephen Jay Gould Takes a New Swing at Explaining Evolution. Chicago Tribune (2. Dezember 1996).

Bibliographie

  • Ontogeny and Phylogeny (1977) ISBN 0-674-63941-3
  • Ever Since Darwin (1977) (dt. Darwin nach Darwin: Naturgeschichtliche Reflexionen) ISBN 0-393-30818-9
  • Stephen J. Gould/ Richard C. Lewontin (1979) The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm. A Critique of the Adaptionist Programme in: Proceedings of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences; Vol. 205, No. 1161; S. 581–598
  • The Panda’s Thumb (1980) (dt. Der Daumen des Panda) ISBN 0-393-30819-7
  • The Mismeasure of Man (1981) (dt. Der falsch vermessene Mensch) ISBN 0-393-31425-1
  • Stephen J. Gould/Elisabeth S. Vrba; Exaptation. A missing Term in the Science of Form in: Paleobiology; Vol. 8, No. 1; S. 4–15
  • Hen’s Teeth and Horse’s Toes (1983) (dt. Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt) ISBN 0-393-31103-1
  • The Flamingo’s Smile (1985) (dt. Das Lächeln des Flamingos. Betrachtungen zur Naturgeschichte) ISBN 0-393-30375-6 (darin die Geschichte von Sarah Baartman)
  • Time’s Arrow, Time’s Cycle (1987) (dt. Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil und Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde) ISBN 0-674-89199-6
  • An Urchin in the Storm: Essays about Books and Ideas (1987) ISBN 0-393-30537-6
  • Wonderful Life: The Burgess Shale and the Nature of History (1989) (dt. Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur) ISBN 0-393-30700-X
  • Bully for Brontosaurus (1991) (dt. Bravo, Brontosaurus. Die verschlungenen Wege der Naturgeschichte) ISBN 0-09-989350-9
  • Finders, Keepers: Eight Collectors (1992)
  • Eight Little Piggies (1993) ISBN 0-393-31139-2
  • Dinosaur in a Haystack (1995) (dt. Ein Dinosaurier im Heuhaufen. Streifzüge durch die Naturgeschichte) ISBN 0-517-88824-6
  • Full House: The Spread of Excellence From Plato to Darwin (1996) (dt. Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution) ISBN 0-609-80140-6
  • Questioning the Millennium: A Rationalist’s Guide to a Precisely Arbitrary Countdown (1997) (dt. Der Jahrtausend-Zahlenzauber. Durch die Scheinwelt numerischer Ordnungen)
  • Leonardo’s Mountain of Clams and the Diet of Worms (1998) ISBN 0-609-80475-8
  • Rocks of Ages: Science and Religion in the Fullness of Life (1999) ISBN 0-345-43009-3
  • The Lying Stones of Marrakech (2000) (dt. Die Lügensteine von Marrakesch. Vorletzte Erkundungen der Naturgeschichte) ISBN 0-609-80755-2
  • Crossing Over: Where Art and Science Meet (2000) ISBN 0-609-80586-X
  • The Structure of Evolutionary Theory (2002) ISBN 0-674-00613-5
  • I Have Landed: The End of a Beginning in Natural History (2002) (dt. Das Ende vom Anfang der Naturgeschichte) ISBN 0-609-60143-1
  • The Hedgehog, the Fox, and the Magister’s Pox (2003) ISBN 0-609-60140-7
  • Das Buch des Lebens.

Literatur

  • Richard York, Brett Clark: The Science and Humanism of Stephen Jay Gould, Monthly Review Press, 2011, ISBN 978-1-58367-216-7 (Einführung)

Weblinks

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