Spagyrik
Spagyrik (aus dem Griechischen spao „(heraus)ziehen, trennen“ und ageiro „vereinigen, zusammenführen“) bezeichnet die pharmazeutische und therapeutische Umsetzung der Alchemie. Hierbei werden pflanzliche, mineralische und tierische Ausgangssubstanzen mit Hilfe chemischer Verfahrenstechniken, die als charakteristisch für die alchemistische Verfahrensweise gelten, zu Spagyrika (Einzahl: Spagyrikum) verarbeitet. Ein wesentlicher Bestandteil der spagyrischen Arzneimittelherstellung ist die Destillation. Sie kommt außer in ihrer einfachen Form auch in besonderen Ausführungen wie der „Zirkulation“ (Form der Rückflussdestillation) oder der so genannten „Kohobation“ (Mehrfachdestillation) zur Anwendung. Voran geht in der Regel ein „Aufschluss“ der Materie, etwa durch Mazeration – auch unter Wärme („Digestion“), der bei biogenen Ausgangsstoffen oft von Fäulnis oder Gärung begleitet abläuft. Ein ebenfalls namhafter Prozess ist die Kalzinierung, worunter die Trocknung und Veraschung des Destillationsrückstands verstanden wird. Die Verfahrensschritte konzentrieren sich in der alchemistischen Weltanschauung auf die Abtrennung des „Wesentlichen“ von seiner stofflichen Erscheinung. Am Schluss steht die Zusammenführung der Zwischenstufen („Konjugation“) zur „Quintessenz“, der besondere Heilkräfte zugeschrieben werden.
Heute werden auch verschiedene Heilsysteme zusammenfassend mit dem Begriff Spagyrik bezeichnet. Das therapeutische Ziel ist die positive Beeinflussung einer imaginären „Lebenskraft“ und damit die Aktivierung der Selbstheilungskräfte. Der theoretische Hintergrund ist bei den unterschiedlichen spagyrischen Richtungen nicht einheitlich. Grundlage bilden Vorstellungen aus der antiken Naturphilosophie (z. B. „Elementenlehre“), die Signaturenlehre und Vorstellungen aus der Humoralpathologie.
Für Spagyrika, die heutzutage von der pharmazeutischen Industrie hergestellt werden, konnten bisher weder Daten zur Wirksamkeit über eine Placebowirkung hinaus noch eine plausible Wirkungshypothese erbracht werden. Auch die Stiftung Warentest sieht die therapeutische Wirksamkeit für kein Anwendungsgebiet belegt.[1]
Geschichte
Die Arzneimittelherstellung und Therapie nach den weltanschaulichen und praktischen Regeln der Alchemie geht auf Theophrastus von Hohenheim (1493–1541), genannt Paracelsus, zurück. Von ihm ist der erstmalige Gebrauch des Begriffes Spagyrik überliefert, die er in einer Ermahnung an Ärzte mit der Alchemie gleich setzte:
- „Darumb so lern alchimiam die sonst spagyria heisst, die lehret das falsch scheiden von dem gerechten.“
Mit der Herstellung von Arzneimitteln mittels alchemischer Verfahren grenzte Paracelsus sein Heilsystem von der damals verbreiteten „galenischen“ Medizin ab. Die therapeutische Anwendung wurde vor dem Hintergrund der alchemistischen Philosophie und damit der alchemistischen Sicht des Menschen und seiner Umwelt durchgeführt. Dazu gehörte die Vorstellung von den Entien, den vier Elementen, den philosophischen Prinzipien, den Astra, dem Archaeus, der Mumia, den Virtutes, dem Tartarus.
Iatrochemie (16. und frühes 17. Jahrhundert)
Angeregt durch die paracelsische Spagyrik entstand die Iatrochemie oder Chemiatrie. Sie fand in der Folgezeit besondere Beachtung beim Adel und zu Hofe. Landgraf Moritz von Hessen-Kassel richtete 1609 in Marburg den weltweit ersten Lehrstuhl für Chemiatrie ein und besetzte ihn mit Johannes Hartmann. Ein weiterer Iatrochemiker war Johann Rudolph Glauber.
Die Iatrochemie verlor Ende des 17. Jahrhundert an Bedeutung und erlebte im 19. Jahrhundert in Form weiterer Heilsysteme einen Aufschwung.
Spagyrische Heilsysteme im 19. Jahrhundert
- Erfahrungsheillehre von Johann Gottlieb Rademacher
Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte Johann Gottlieb Rademacher (1752–1850) basierend auf den Lehren der „scheidekünstigen Ärzte“ seine Erfahrungsheillehre.
- Elektrohomöopathie des Cesare Mattei
Die von dem italienischen Politiker und Heiler Cesare Mattei (1809–1896) verwendeten Mittel, die er in der Ausübung der von ihm begründeten Elektrohomöopathie einsetzte, sollen auf spagyrisch aufbereiteten pflanzlichen Substanzen beruhen, was aber nicht belegt ist. Später entstand in Abwandlung der Elektrohomöopathie durch den Homöopathen Theodor Krauß (1864–1924) in Zusammenarbeit mit dem Regensburger Apotheker Johannes Sonntag (1863–1945), die JSO-Komplex-Heilweise nach Krauß, auch JSO-Spagirik genannt.
- Heilsystem nach Dr. Zimpel
Der schlesische Eisenbahningenieur Carl-Friedrich Zimpel (1801–1879) entwickelte ab 1868 das nach ihm benannte Heilsystem, nachdem er in Italien Cesare Mattei kennengelernt hatte. Es verwendete neben den „Spagyrischen Pflanzenmitteln“ auch die sogenannten „Elektrizitätsmittel“ und weitere, nicht ausschließlich spagyrisch hergestellte Mittel („Arcana“). Zimpel hielt die Destillation für einen wesentlichen Herstellungsschritt und glaubte, durch ausdauernde Destillationsvorgänge die arzneiliche Wirkung seiner Mittel besonders zu verstärken. Die heute angebotenen und mit dem Namen Zimpels bezeichneten Spagyrika werden allerdings nicht nach der original Zimpelschen Herstellungsmethode gefertigt. Sie gehen vermutlich auf Vorschriften von Johann Rudolph Glauber zurück. Im Gegensatz zu den Zubereitungen, die nach der original Zimpelschen Herstellungsmethode gefertigt wurden, enthalten sie keine Wirkstoffe mehr. In den Produkten sind nur die wasserdampfflüchtigen Stoffe des vergorenen Ansatzes und die löslichen Mineralsalze der Asche des Pressrückstands enthalten. Eine medizinische pharmakologische Wirkung dieser Produkte konnte nie nachgewiesen werden.
Spagyrische Arzneimittel im 20./21. Jahrhundert
Bekannte Spagyriker des 20. Jahrhunderts sind etwa Johann Conrad Glückselig (1864–1934), Alexander von Bernus (1880–1965), Walter Strathmeyer (1899–1969) und Frater Albertus (bürgerlicher Name Albert Riedel, 1911–1984). In der Gegenwart wurden und werden Spagyrika im Wesentlichen als Fertigarzneimittel von verschiedenen Firmen hergestellt, es sind dies Mittel beispielsweise der folgenden Richtungen:
- Spagyrik nach Bernus (Laboratorium Soluna Heilmittel GmbH, Donauwörth) nach Alexander von Bernus
- Spagyrik nach Glückselig (Phönix Laboratorium GmbH, Bondorf; Heidak AG, Emmenbrücke) nach Conrad Johann Glückselig
- Spagyrik nach Heinz (HSI-Spagyrik Institut, Braunschweig) nach Ulrich-Jürgen Heinz
- Spagirik nach Krauß (ISO Arzneimittel, Ettlingen) nach Theodor Krauß und Johann Sonntag
- Spagyrik nach Pekana (Pekana Naturheilmittel, Kißlegg) nach Peter Beyersdorff
- Spagyrik nach Strathmeyer (Strath-Labor, Donaustauf) nach Walter Strathmeyer
- Spagyrik nach Zimpel (Spagyros GmbH, Rottweil; Staufen-Pharma GmbH & Co. KG, Göppingen; Lemasor GmbH, Püttlingen; Phylak Sachsen GmbH, Burgneudorf; Heidak AG, Emmenbrücke) Verfahren in irreführender Weise benannt nach Carl Friedrich Zimpel; Herstellung der Mittel orientiert sich vermutlich an Vorschriften von Johann Rudolph Glauber
Die verwendeten Verfahren unterscheiden sich in den einzelnen Herstellungsschritten deutlich voneinander. Sechs Verfahren (Krauß, Pekana, Strathmeyer, Zimpel, Glückselig, von Bernus) sind im Homöopathischen Arzneibuch (HAB) als standardisierte Herstellungsvorschriften enthalten. Die nach dem HAB hergestellten Fertigarzneimittel werden rechtlich wie homöopathische Arzneimittel behandelt: ihr Inverkehrbringen bedarf der behördlichen Genehmigung (Zulassung, Registrierung), an die Herstellungsbedingungen gelten strenge Anforderungen.
Quellen
- Helmut Gebelein: Alchemie. Sonderausgabe. Hugendubel, Kreuzlingen u. a. 2000, ISBN 3-89631-402-5, (Diederichs Gelbe Reihe, Europa 165).
- Colin Goldner: Psycho. Therapien zwischen Seriosität und Scharlatanerie. Pattloch, Augsburg 1999, ISBN 978-3-629-00816-9.
- sueddeutsche.de: Colin Goldner: Jenseits der Schulmedizin – Teil 13: Spagyrik/Clustermedizin, 10. Juni 2007.
- Axel Helmstädter: Spagyrische Arzneimittel. In: Wolf-Dieter Müller-Jahnke, Jürgen Reichling (Hrsg.): Arzneimittel der Besonderen Therapierichtungen. Historische Grundlagen und heutige Anwendung. Haug Verlag, Heidelberg, 1996, ISBN 3-7760-1532-2, (Erfahrungsheilkunde, Naturheilverfahren).
- Vojtech Mornstein in Skeptical Inquirer 11. Januar 2002.
- Wolfgang Schneider (Hrsg.): Wörterbuch der Pharmazie. Band 4. Geschichte der Pharmazie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1985, ISBN 3-8047-0688-6.
- Stiftung Warentest (Hrsg.): Die Andere Medizin. Nutzen und Risiken sanfter Heilmethoden. In Zusammenarbeit mit Krista Federspiel und Vera Herbst. 4. überarbeitete und erweiterte Auflage. Stiftung Warentest, Berlin 1996, ISBN 3-924286-96-5, (Ein Buch von Test), (Handbuch Die andere Medizin).
Literatur
- Hans-Josef Fritschi: Spagyrik. Lehr- und Arbeitsbuch. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart u. a. 1997, ISBN 3-437-55230-9.
- Axel Helmstädter: Spagyrische Arzneimittel – Pharmazie und Alchemie der Neuzeit. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1990, ISBN 978-3-8047-1113-6.
- Ingrid Kästner: Spagyrik im medizinhistorischen Kontext. In: Nova Acta Paracelsica 13, 1999, ISSN 0254-8712, S. 185–216.
- Ulrich Jürgen Heinz: Das Handbuch der modernen Pflanzenheilkunde - Heil- und Arzneipflanzen, ihre Wirkung und Anwendung in Medizin, Natur- und Volksheilkunde, Homöopathie und Spagyrik, Verlag Hermann Bauer, Freiburg im Breisgau 1984, ISBN 3-7626-0276-X.
Weblinks
- Ulrich Arndt: Das „Große Werk“ des spagyrischen Heilens, in: esotera 10/1997, S. 50–56, Kopie online.
- Margret Rupprecht: Die Spagyrik des Alexander von Bernus in der Tradition der paracelsischen Alchemie. In: Erfahrungsheilkunde 54, 2005, S. 176–185, Kopie online.
Einzelnachweise
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