Kritisches Phänomen
Kritische Phänomene sind ein Oberbegriff für die charakteristischen Verhaltensweisen bei der Physik kritischer Punkte. Die Phänomene lassen sich zumeist auf die Divergenz einer Korrelationslänge zurückführen. Charakteristisch ist auch das damit verbundene Phänomen der „kritischen Verlangsamung“.
Quantitativ sind die kritischen Phänomene vor allem durch kritische Exponenten, algebraische Divergenzen von Ordnungsparametern und Skalierungsbeziehungen zwischen verschiedenen Größen, Universalität, fraktales Verhalten und die Verletzung der Ergodizität gekennzeichnet.
Kritische Phänomene treten zum Teil – jedoch nicht ausschließlich – bei Phasenübergängen zweiter Ordnung auf. Besonders charakteristisch ist bei fast allen Modellen die Divergenz der Korrelationslänge
2D-Ising-Modell
Zur Veranschaulichung des Verhaltens kritischer Phänomene kann das zweidimensionale Ising-Modell verwendet werden. Das Modell beschreibt ein Feld klassischer Spins, die nur die zwei diskrete Zustände +1 und −1 annehmen können. Die Wechselwirkung wird durch den klassischen Hamiltonoperator beschrieben:
Dabei erstreckt sich die Summe über benachbarte Paare und
Am absoluten Nullpunkt kann der thermische Erwartungswert
Oberhalb der kritischen Temperatur ist das System global ungeordnet, jedoch besteht es aus geordneten Clustern, deren Größe sich mit steigender Temperatur verringert. Die Größe der Cluster definiert wiederum die Korrelationslänge. Im Grenzwert sehr großer Temperaturen ist diese wiederum Null und das System vollständig ungeordnet.
Kritischer Punkt
Die Korrelationslänge divergiert am kritischen Punkt:
Neben der Korrelationslänge ist die Suszeptibilität eine am kritischen Punkt divergierende Größe. Wenn man das System einem kleinen Magnetfeld aussetzt, im Hamiltonoperator durch einen zusätzlichen term
Verletzung der Ergodizität
Ergodizität ist die Annahme, dass ein System bestimmter Temperatur den gesamten Phasenraum erkundet. In einem Ising-Ferromagneten unterhalb von
Kritische Exponenten und Universalität
Bei kritischen Phänomen gilt generell, dass sich die Observablen bei Annäherung an den kritischen Punkt wie
Zwischen den kritischen Exponenten bestehen verschiedene Skalenbeziehungen wie
Kritische Dynamik
Auch bei dynamischen Phänomenen gibt es kritisches Verhalten und Universalität: Die Divergenz der charakteristischen Zeit
Kritische Opaleszenz
Bei gewissen Flüssigkeitsmischungen gibt es das als „kritische Opaleszenz“ bezeichnete Phänomen der „milchigen Eintrübung“: es bilden sich am kritischen Punkt der Flüssigkeitsmischung immer mehr mikroskopisch-feine Tröpfchen, wobei die Wellenlänge der Fluktuationen ständig zunimmt
Mathematische Hilfsmittel
Viele Eigenschaften des kritischen Verhaltens lassen sich aus der Renormierungsgruppentheorie ableiten. Diese nutzen das Bild der Selbstähnlichkeit aus, um Universalität zu erklären und numerische Werte der kritischen Exponenten vorherzusagen. Eine Rolle spielt auch die Variationsstörungstheorie, welche divergente Störungsreihen in konvergente Entwicklungen der starken Kopplung verändert. Die Molekularfeldtheorie eignet sich nicht zur Beschreibung kritischer Phänomene, da diese nur weit entfernt vom Phasenübergang gültig ist und Korrelationseffekte vernachlässigt, die in der Nähe des kritischen Punktes an Bedeutung gewinnen, weil dort die Korrelationslänge divergiert.
In zweidimensionalen Systemen bildet die Konforme Feldtheorie ein wirksames Hilfsmittel. Unter Ausnutzung von Skaleninvarianz und einigen weiteren Voraussetzungen, die zu unendlichen Symmetriegruppen führen, konnten eine Reihe neuer Eigenschaften zweidimensionaler kritischer Systeme gefunden werden.
Anwendungen
Anwendungen gibt es außer in Physik und Chemie auch in Fächern wie der Soziologie. Es liegt z. B. nahe, ein Zwei-Parteien-System (näherungsweise!) durch ein Ising-Modell zu beschreiben. Beim Übergang von einer Mehrheitsmeinung zur anderen kann man dann unter Umständen. die oben beschriebenen kritischen Phänomene beobachten.[2]
Siehe auch
Literatur
- James J. Binney, et al.: The theory of critical phenomena - an introduction to the renormalization group. Clarendon Press, Oxford 2001, ISBN 0-19-851393-3.
- W. Gebhardt, U. Krey: Phasenübergänge und kritische Phänomene - Eine Einführung. Vieweg, 1980, ISBN 3528084227.
- Nigel Goldenfeld: Lectures on phase transitions and the renormalization group. Addison-Wesley, Redwood City 1997, ISBN 0-201-55408-9.
- Igor Herbut: A modern approach to critical phenomena. Cambridge Univ. Press, Cambridge 2007, ISBN 0-521-85452-0.
- H. Kleinert and V. Schulte-Frohlinde, Critical Properties of φ4-Theories. World Scientific, Singapore 2001, ISBN 981-02-4659-5. (Online).
Einzelnachweise
- ↑ P. C. Hohenberg, B. I. Halperin: Theory of dynamic critical phenomena. In: Reviews of Modern Physics. 49, Nr. 3, 1977, doi:10.1103/RevModPhys.49.435.
- ↑ W. Weidlich: Sociodynamics. Republication by Dover Publications, London 2006, ISBN 0-486-45027-9.