Geometrische Frustration

Geometrische Frustration

Geometrische Frustration (auch kurz als Frustration bezeichnet) ist ein Phänomen in der Physik kondensierter Materie, in der die geometrischen Eigenschaften eines Kristallgitters oder die Anwesenheit miteinander im Konflikt stehender atomarer Kräfte die gleichzeitige Minimierung aller Wechselwirkungsenergien an einem gegebenen Gitterpunkt verhindern. Das kann zu hochgradig entarteten Grundzuständen mit von 0 verschiedener Entropie selbst bei 0 K führen. Einfacher ausgedrückt, kann die Substanz niemals vollständig eingefroren sein, da die Struktur, die sie bildet, keinen einzelnen Zustand minimaler Energie besitzt. Bewegung auf molekularer Ebene findet also noch am absoluten Nullpunkt ohne Energiezufuhr statt.

Der Terminus Frustration im Kontext magnetischer Systeme geht auf Gerard Toulouse (1977) zurück und ist vor allem bei den sog. Spingläsern wichtig. Magnetische Systeme mit geometrischer Frustration werden seit vielen Jahren untersucht. Frühe Arbeiten beinhalten Studien eines Ising-Modells auf einem dreieckigen Gitter mit antiferromagnetisch gekoppelten benachbarten Spins durch G. H. Wannier, die 1950 veröffentlicht wurde. Später gab es ähnliche Versuche an Magneten mit konkurrierenden Wechselwirkungen, d. h. mit unterschiedlichen Koppelungen, von denen jede einzelne einfache (ferro- oder antiferromagnetische) aber insgesamt unterschiedliche Strukturen bevorzugen. In diesem Falle können inkommensurable Spinanordungen (z. B. mit Spiralstruktur) die Folge sein, wie sie seit 1959 von Akio Yoshimori, Thomas A. Kaplan, Roger J. Elliott und anderen behandelt wurden. Ein neuerliches Interesse an derartigen Spin-Systemen kam rund zwei Jahrzehnte später im Kontext der schon erwähnten Spingläser und räumlich modulierter Magnetischer Superstrukturen auf. In Spingläsern wird die geometrische Frustration durch stochastische Unordnung in den Wechselwirkungen noch verstärkt. Bekannte Spin-Modelle mit konkurrierenden bzw. frustrierten Wechselwirkungen schließen das Sherrington-Kirkpatrick-Modell mit ein, das Spingläser beschreibt, und das ANNNI-Modell, das kommensurable und inkommensurable magnetische Superstrukturen darstellt.

Magnetische Ordnung

Geometrische Frustration ist ein bedeutendes Phänomen im Magnetismus fester Körper und hat dort mit der topologischen Anordnung von Spins zu tun. Ein einfaches 2D-Beispiel ist in Abbildung 1 zu sehen. Drei magnetische Ionen sitzen auf den Ecken eines Dreiecks mit antiferromagnetischen Wechselwirkungen zwischen ihnen - die Energie ist minimal wenn jeder Spin relativ zu seinen Nachbarn entgegengesetzt ist. Sind nun die ersten beiden Spins antiparallel ausgerichtet, so ist der dritte frustriert, weil seine beiden möglichen Orientierungen, up und down, dieselbe Energie ergeben. Der dritte Spin kann seine Wechselwirkungsenergie nicht mit beiden anderen Spins gleichzeitig minimieren. Daher ist der Grundzustand zweifach entartet.

In ähnlicher Weise können im Dreidimensionalen vier in einem Tetraeder angeordnete Spins (Abbildung 2) geometrisch frustriert sein. Wenn die Spins antiferromagnetisch wechselwirken, lassen sie sich nicht alle antiparallel ausrichten. Es gibt sechs Nächste-Nachbar-Wechselwirkungen, von denen vier antiparallel und daher energetisch „günstig“ sind, doch verbleiben zwei energetisch „ungünstige“ Wechselwirkungen (hier zwischen 1 und 2, und zwischen 3 und 4).

Geometrische Frustration ist auch möglich, wenn die Spins nicht-kollinear angeordnet sind. Bei einem Tetraeder, an dessen Eckpunkten je ein Spin sitzt, der entlang der jeweiligen Achse durch den Mittelpunkt des Tetraeders ausgerichtet ist, lassen sich die Spins so anordnen, dass sie sich gegenseitig aufheben, es also keinen Netto-Spin gibt (Abbildung 3). Das ist äquivalent zu einer antiferromagnetischen Wechselwirkung zwischen jedem Spin-Paar, und in diesem Fall liegt keine geometrische Frustration vor. Mit solchen Achsen tritt geometrische Frustration dann auf, wenn es ferromagnetische Wechselwirkung zwischen Nachbarn gibt, sodass die Energie durch parallele Spins minimiert wird. Die „bestmögliche“ Anordnung zeigt Abbildung 4; dort zeigen zwei Spins zum Zentrum hin und zwei von ihm weg. Das resultierende magnetische Moment zeigt aufwärts und maximiert die ferromagnetische Wechselwirkung in dieser Richtung, aber die Vektorkomponenten in andere Richtungen heben sich gegenseitig auf, d. h., sie sind antiferromagnetisch angeordnet. Es gibt drei verschiedene, aber äquivalente Anordnungen, bei denen zwei Spins nach Außen und zwei nach innen zeigen, sodass der Grundzustand dreifach entartet ist.

Mathematische Definition

Die mathematische Definition ist ganz einfach (und analog zur sog. Wilson-Loop in der Quantenchromodynamik): Es werden Energievariablen der Form

$ {\mathcal {H}}=\sum _{G}\,-I_{k_{\nu },k_{\mu }}\,\,S_{k_{\nu }}\cdot S_{k_{\mu }}\,, $

betrachtet, wobei G der betrachtete Graph ist, während die $ I_{k_{\nu },k_{\mu }}\,, $ die sogenannten „Austauschenergien“ zwischen nächsten-Nachbarn, die (in vorgegebenen Energieeinheiten) die Werte $ \pm 1 $ annehmen sollen, während die $ S_{k_{\nu }}\cdot S_{k_{\mu }} $ innere Produkte skalarer oder vektorieller Spinvariabler sind. Wenn der Graph G die (quadratischen oder triangularen) Randflächen P besitzt, die sog. „Plakettenvariablen“, treten im folgenden sog. „Schleifenprodukte“ der Form I1,2 I2,3 I3,4 I4,1 bzw. I1,2 I2,3 I3,1 auf, die auch als „Frustationsprodukt“ bezeichnet werden. Und zwar ist die Summe über diese Frustrationsprodukte zu bilden, summiert über alle Plaketten. Das Ergebnis für die einzelne Plakette ist entweder +1 oder -1. Im negativen Fall ist die Plakette „geometrisch frustriert“.

Man kann zeigen, dass das Ergebnis eichinvariant ist, und zwar ändert es sich nicht, wenn man die lokalen Werte der Austauschintegrale und der Spins gleichzeitig der folgenden Eichtransformation unterzieht: $ I_{i,k}\to \epsilon _{i}I_{i,k}\epsilon _{k},\quad S_{i}\to \epsilon _{i}S_{i},\quad S_{k}\to \epsilon _{k}S_{k}\,. $ Dabei sind die $ \epsilon _{i} $ und $ \epsilon _{k} $ beliebige Zahlen $ \pm 1\,. $ Aber nicht nur die „Frustrationsprodukte“, sondern auch messbare sonstige Größen, z. B. $ {\mathcal {H}} $, ändern sich bei solchen „Umeichungen“ nicht.

Siehe auch

  • Spin-Eis

Literatur

  • David Sherrington, Scott Kirkpatrick: Solvable Model of a Spin-Glass. In: Physical Review Letters. 35, Nr. 26, 1975, S. 1792–1796, doi:10.1103/PhysRevLett.35.1792.
  • G. Toulouse: Theory of the frustration effect in spin glasses: I. In: Communications on Physics. 2, Nr. 4, 1977, S. 115–119.