Festigkeitslehre

Festigkeitslehre

Ziel der Festigkeitslehre (alte Bezeichnung Elastostatik) ist es, verlässliche Aussagen darüber treffen zu können, ob Maschinenteile oder Bauwerke den Belastungen standhalten beziehungsweise wann sie durch welche Belastungen bleibend verformen oder brechen werden. Unter Versagen versteht man in der Festigkeitslehre ein Zerstören der Bauteile, oder eine Verformung, die derart groß ist, dass die Funktion des Bauteils nicht mehr gewährleistet ist.

Einführung

Im Altertum und im Mittelalter war man auf die Erfahrung, die Intuition und die Tradition der Baumeister angewiesen. Insbesondere der Fortschritt in der Mathematik hat zu anerkannten Berechnungsmethoden geführt.

Die Festigkeitslehre ist ein Teilgebiet der technischen Mechanik.

Sie beantwortet zwei Grundfragen:

1. Wie wirkt eine äußere Belastung auf das Innere des Bauteils? Hierbei betrachtet man den mikroskopisch kleinen Bereich bis herab auf die Molekülebene. Konkret: wie groß ist die Beanspruchung eines beliebig kleinen Ausschnitts (Würfel mit sehr kleiner Kantenlänge) an einem beliebigen Ort? Man spricht von inneren Spannungen (Kraft pro Fläche). Hierbei geht es nicht nur um Zug oder Druck, sondern auch um Scher- und Verdrehbelastungen.
Voraussetzung hierfür ist die umfassende Ermittlung der später auftretenden äußeren Kräfte (Traglasten, Wind, Zug, Druck und andere). Mindestens für die Baustatik gibt es hierfür vorgeschriebene Normen. Das zeitliche Verhalten der Belastung (dauernd, schwellend oder wechselnd) muss ebenfalls bekannt sein.
2. Wie hält das Baumaterial der Belastung stand? Die Werkstoffkunde beantwortet diese Frage. Sie liefert Methoden, wie man die an einem Probekörper im Versuch ermittelten Verhältnisse auf das ganze noch zu erstellende Bauteil übertragen kann. Die Ergebnisse münden in die Aussage der zulässigen Festigkeit (Kraft pro Fläche). Untersucht wird auch, ab wann die resultierende Verformung nicht mehr rein elastisch sondern auch plastisch ist.

Häufig darf man voraussetzen, dass das Bauteil nur rein elastisch verformt wird. Das vereinfacht die Betrachtung erheblich. Diese Voraussetzung ist mit dem Begriff „zulässige Festigkeit“ verbunden.

Einen ideal starren Körper gibt es in der Festigkeitslehre nicht. Die Elastizitätslehre beschreibt die Durchbiegung von Federn, Balken und Stäben. Nach Entlastung geht das Bauteil in die ursprüngliche Gestalt zurück.

Im englischen wird von stress und strain gesprochen. Der belastenden Spannung (stress) folgt eine Verformung (z.B. Dehnung) (strain).

Auftretende Belastungen

Die auftretenden Belastungen werden nach den Gesetzen der Mechanik berechnet. In einigen Fällen werden auch die Gesetze der Fluidmechanik, der Thermodynamik oder des Wärmetransports genutzt, um Randbedingungen oder Belastungen zu berechnen.

Wichtig ist hierbei, dass die Belastungen meist analytisch unter vereinfachenden Annahmen (z. B. Weglassen der Schwere) bestimmt wird. In jüngster Zeit werden jedoch immer häufiger numerische Methoden wie die Finite-Elemente-Methode (FEM) verwendet.

Die bei einer äußeren Belastung im Körper auftretenden Spannungen sind abhängig von:

  • Beanspruchungsart: Zug1), Druck1), Schub, Abscheren, Knickung, Biegung, Torsion oder eine Kombination (zusammengesetzte Beanspruchung)
  • Richtung der äußeren Belastungen
  • Betrag der äußeren Belastungen
  • Ort der äußeren Belastungen
  • Geometrie des Körpers
  • Zeitliches Verhalten der Belastungen (z. B. schwellend, wechselnd)

1) Zug und Druck werden i. A. als eine Belastungsart (der Normalspannung) angesehen.

Widerstandsfähigkeit des Körpers

Die Widerstandsfähigkeit eines Körpers wird in vielen Fällen ermittelt, indem man die Materialkennwerte einer genormten Probe auf die Kennwerte des Körpers umrechnet.

Dabei bedient man sich im Allgemeinen der Elastizitätstheorie bzw. auch der Plastizitätstheorie. Für einfach geformte (z. B. stabförmige Körper) können daraus Formeln theoretisch abgeleitet werden. Für kompliziertere Körper verwendet man vorwiegend Computerprogramme, u. a. Anwendungen der Finite-Elemente-Methode. Weitere Einflüsse (außer Form, Belastungsart und Materialkennwerte) sind:

  • der Größeneinfluss (bedingt durch den unterschiedlichen Einfluss von Materialfehlern)
  • der Oberflächeneinfluss, bedingt z. B. durch Rauheit oder Verfestigung der Oberfläche
  • Einfluss sonstiger Randbedingungen, z. B. Temperatur (soweit nicht schon im Berechnungsmodell berücksichtigt), trockene Reibung oder aggressive Medien.

Diese Einflüsse werden z. T. durch empirisch gewonnene Faktoren berücksichtigt.

In manchen Fällen wird die Widerstandsfähigkeit der Körper rein empirisch entwickelt, d. h. durch Experimente an gleichartigen Körpern oder Modellen. Bei der Verwendung von Modellen müssen die Gesetze der Ähnlichkeitstheorie berücksichtigt werden.

In einigen Bereichen z. B. Maschinenbau oder Bauwesen existieren einheitliche Berechnungsverfahren, die größtenteils genormt sind.

Ergebnisse der Festigkeitsberechnung

Die Ergebnisse sind dimensionslose Werte (Werte ohne physikalische Einheiten), die Sicherheiten genannt werden. Sie werden als Verhältnis von Widerstandsfähigkeit zur auftretenden Belastung berechnet. Die Sicherheiten müssen größer als die Mindestwerte sein. Die Höhe dieser Mindestwerte hängt im Wesentlichen von folgenden Einflüssen ab:

  • Genauigkeit des gewählten Berechnungsmodelles
  • Wahrscheinlichkeit des gleichzeitigen Auftretens von Höchstwerten unabhängiger Belastungen
  • Wahrscheinlichkeitsverteilung der Werkstoff-Widerstandswerte
  • Auswirkung des Versagens von Bauteilen auf das gesamte Tragwerk

In vielen Fällen muss die Sicherheit gegen mehrere Versagensarten nachgewiesen werden, z. B.:

  • Sicherheit gegen Bruch
  • Sicherheit gegen Funktionsverlust durch unzulässige Verformung
  • Sicherheit gegen Ermüdung (Bruch nach häufigen Belastungsänderung, z. B. bei Fahrzeugachsen)
  • Sicherheit gegen Stabilitätsverlust, z. B. gegen Knicken oder Beulen

Beispiel

Als einfachstes Beispiel ist ein Stab zu betrachten, der von beiden Seiten mit der Kraft F gezogen wird. Mit der Querschnittsfläche A ergibt sich die Spannung σ. (σ =F/A).

Besteht der Stab aus dem Stahl S235, so kann nun die Spannung σ mit der Streckgrenze dieses Stahls verglichen werden (ca. 235 N/mm2). Ist die berechnete Spannung kleiner als die Streckgrenze, tritt keine dauerhafte Verformung auf.

Berechnungsverfahren

Es werden insbesondere die Berechnungsverfahren der Technischen Mechanik und der Baustatik benutzt; dazu gehörten bis ins 20. Jahrhundert hinein vor allem graphische Verfahren, wie

  • der Mohrsche Spannungskreis zur Bestimmung der Komponenten des Spannungstensors,
  • das Seileckverfahren zur Bestimmung der Lage und Größe der Resultierenden bei mehreren Kräften,
  • der Cremonaplan zur Bestimmung der Stabkräfte in Fachwerken.

Hinzu kamen analytische Verfahren der Kraftgrößenmethode, wie

  • das Rittersche Schnittverfahren zur Berechnung einzelner Stabkräfte in Fachwerken oder
  • die Anwendung der Sätze von Castigliano zur Berechnung der Auflagerkräfte und Schnittreaktionen in statisch unbestimmten Tragwerken.

Heute haben sich in der Hauptsache computergestützte Methoden durchgesetzt, die die Analyse auch komplizierter Systeme mit verhältnismäßig geringem Aufwand ermöglichen. Dazu gehören vor allem

  • die Finite-Elemente-Methode,
  • die Rand-Elemente-Methode sowie
  • die Distinct-Element-Methode zur Berechnung von Körpern mit Diskontinuitäten.

Literatur

  • R. C. Hibbeler: Technische Mechanik 2 - Festigkeitslehre. 5., überarbeitete und erweiterte Aufl. Pearson Studium, München 2005, ISBN 3-8273-7134-1.